Samstag, 10. November 2012

WIEDERWAHL UND WIEDERSEHEN - das Foto einer Umarmung


Ein Beitrag von Morel



Um 5 Uhr 16 zentraleuropäischer Zeit erreichte mich die Nachricht des Präsidenten. Vier Jahre mehr. Wie ein Urteil klang das, aber begleitet von einem Foto, das seltsam privat wirkte. Der Präsident umarmte seine Frau - sie wendete uns (das Foto wurde schon in den ersten Minuten seiner Veröffentlichung mehr als 100.000mal weiterverbreitet, inzwischen haben es unzählige Zeitungen nachgedruckt und kommentiert) den Rücken zu. Wir sahen nur ihr dichtes, schwarzes Haar, einzelne Strähnen im Wind, ein kariertes Strandkleid, die schon oft bewunderten Schultern. Auch der Präsident blickte uns im Moment seines Triumphs nicht an, seine Augen waren geschlossen, die Andeutung eines Lächelns auf dem Mund. Es war der Moment, in dem die ersten Nachrichten von seinem Wahlerfolg, dem zweiten, von vielen Experten für nicht möglich gehaltenen, umzugehen begannen. Der Moderator von CNN wagte sich an diese Prognose erst wenige Minuten später, einige der sogenannten Swing-States standen noch auf der Kippe. Die Journalisten des rechtskonservativen Murdoch-Senders Fox brauchten noch über eine Stunde, um sich mit dem vom Mathematikgenie Nate Silver schon Tage zuvor prognostizierten Ergebnis abzufinden.

Das Foto von Scout Tufankijan entstand, wie einige Tage später im Internetmagazin Slate nachzulesen war, im August auf einer Wahlkampfveranstaltung in Iowa. Daher das Sommerkleid, der Wind, die Wolken im Hintergrund. Nicht zu sehen die Bühne, auf der sich die beiden umarmten, die Mikrophone und Lautsprecher, die Wartenden und Ungeduldigen. Die Liebenden, wie aus den großen Melodramen der Filmgeschichte bekannt, sind auch in Gesellschaft immer allein, aber niemals unbeobachtet. Es war, so berichtet es die Fotografin, das erste Mal nach einigen Tagen des Wahlkampfs, das sich das Paar wieder sah. Das Foto bildet also ein Wiedersehen ab, es ist nicht gestellt, sondern journalistisch entstanden, wenn auch im Auftrag der Kampagnenleitung. Dieses Foto in der Wahlnacht, in der Stunde des Triumphs, nach einem der teuersten und schmutzigsten Wahlkämpfe in der US-amerikanischen Geschichte zu versenden, ist ein gewagter PR-Coup. Der Präsident triumphiert nicht über seinen Gegner, sondern schließt mitten im Rampenlicht, in den Armen seiner Frau, die Augen. Ein Moment außerhalb der Welt - dass es Tufankijan gelang diesen Augenblick festzuhalten, macht die Stärke ihres Bilds aus. Die PR-Leute von Obama haben begriffen, dass es nach dem Untergang der alten hierarchisch organisierten Medien, nicht mehr auf die gelungene, abgesprochene Inszenierung ankommt: gerade die horizontal, rhizomatisch verknüpften sozialen Medien, in denen sich jeder selbst inszenieren kann, gieren nach Wirklichkeit. Das Bild der Obamas war "real", nicht inszeniert, es schenkte uns Voyeuren eine Illusion von Wahrheit. Wir wollen nicht, dass der Präsident uns anschaut, weil wir den Bildern schon lange nicht mehr trauen, wir wollen ihn sehen. Die Verwendung des Fotos war ein kalkulierter Bruch mit dem PR-Regelbuch, der bald Nachahmer finden wird.

Aber es gibt noch anderes in diesem Foto. Es hat leicht erkennbar eine symbolische Funktion und zeigt die Seite Obamas, die in den Jahren seiner Präsidentschaft verloren gegangen war. Als andere Bilder verbreitet wurden, das des coolen Strategen, der im Kontrollraum der Macht, die Ermordung seines Feindes betrachtet, während sich die Außenministerin die Hand vor den Mund hält. Auch dieses Foto ein infamer, kalkulierter PR-Coup, war aufgrund seiner Authentizität ein viraler Erfolg.  Immer öfter wirkte Obama fremd und distanziert, wie auf dem Foto aus dem Kontrollraum, es fehlte das Leichte und Tänzerische, das seine Bewegungen früher ausmachte. Eine bekannte Kolumnistin verglich ihn mit Spock aus dem Raumschiff Enterprise, der Freak, der nicht ganz zu "uns" gehört, weil er keine Gefühle habe. Doch wissen wir es aus seinen Auftritten in Abendshows: er ist ein Mann mit "Soul". In der klassischen Soul-Musik gab es ja mindestens zwei Bilder des Mannes. Die großen Sängerinnen wie Aretha Franklin sangen oft über den unwiderstehlichen Mann, der das Vertrauen missbraucht, dem Trickser, der die Hoffnungen nicht erfüllt. You're no good, aber dann doch immer wieder gut genug für eine Nacht der Illusion. Im Gegenzug flehten die großen Soulsänger wie Marvin Gaye um Vergebung für all die Versprechen, die sie nicht halten konnten. In ihren größten Momenten verschmolz die Soulmusik Erlösung und Sexualität, die Kirche und den Nachtclub. Der Trickser, Lügner und Betrüger kehrt zurück in einen Schoss, wohin sonst. Auch diese Rückkehr ist diesem Bild eingeschrieben. Wie alle im Kern schüchternen, menschenscheuen, aber nicht unbedingt unsicheren Menschen, ist Obama wahrscheinlich misstrauisch und verschlossen. Seine Gegner hatten es leicht von ihm das Bild des Tricksers zu zeichnen, weil er so undefiniert schien, die Festlegungen vermied, immer umgibt ihn eine vielleicht auch attraktive Unschärfe. In seiner Frau umarmt Obama nicht sein Land, aber das fotografierte Wiedersehen mit ihr ist eine Erinnerung daran, worauf es ankommt, auch in der Politik. In seiner Rede in der Wahlnacht nahm er den vom Bild angesponnenen Faden auf, als er gelassen etwas Großes bemerkte, nämlich dass der Streit in der Demokratie ein Zeichen der Freiheit sei ("The arguments we have are a sign of our liberty."). Nur weil der Streit uns trennt, können wir uns in Freiheit wieder finden. Jeder Umarmung geht die Trennung voraus. Mit Obama haben sich die zerstrittenen Bürger der Vereinigten Staaten in ihrer Mehrheit für ein Bild von sich zu entschieden, das ihnen besser gefällt, als das des rechthaberischen Moralisten, der anderen ihre Fehler vorhält. Es ist das Bild des reumütig zurückkehrenden Sünders.

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