Ein Beitrag von Morel
Um 5
Uhr 16 zentraleuropäischer Zeit erreichte mich die Nachricht des Präsidenten.
Vier Jahre mehr. Wie ein Urteil klang das, aber begleitet von einem Foto, das
seltsam privat wirkte. Der Präsident umarmte seine Frau - sie wendete uns (das
Foto wurde schon in den ersten Minuten seiner Veröffentlichung mehr als
100.000mal weiterverbreitet, inzwischen haben es unzählige Zeitungen
nachgedruckt und kommentiert) den Rücken zu. Wir sahen nur ihr dichtes, schwarzes
Haar, einzelne Strähnen im Wind, ein kariertes Strandkleid, die schon oft
bewunderten Schultern. Auch der Präsident blickte uns im Moment seines Triumphs
nicht an, seine Augen waren geschlossen, die Andeutung eines Lächelns auf dem
Mund. Es war der Moment, in dem die ersten Nachrichten von seinem Wahlerfolg,
dem zweiten, von vielen Experten für nicht möglich gehaltenen, umzugehen
begannen. Der Moderator von CNN wagte sich an diese Prognose erst wenige
Minuten später, einige der sogenannten Swing-States standen noch auf der Kippe.
Die Journalisten des rechtskonservativen Murdoch-Senders Fox brauchten noch über
eine Stunde, um sich mit dem vom Mathematikgenie Nate Silver schon Tage zuvor
prognostizierten Ergebnis abzufinden.
Das
Foto von Scout Tufankijan entstand, wie einige Tage später im Internetmagazin
Slate nachzulesen war, im August auf einer Wahlkampfveranstaltung in Iowa.
Daher das Sommerkleid, der Wind, die Wolken im Hintergrund. Nicht zu sehen die
Bühne, auf der sich die beiden umarmten, die Mikrophone und Lautsprecher, die
Wartenden und Ungeduldigen. Die Liebenden, wie aus den großen Melodramen der
Filmgeschichte bekannt, sind auch in Gesellschaft immer allein, aber niemals
unbeobachtet. Es war, so berichtet es die Fotografin, das erste Mal nach
einigen Tagen des Wahlkampfs, das sich das Paar wieder sah. Das Foto bildet
also ein Wiedersehen ab, es ist nicht gestellt, sondern journalistisch
entstanden, wenn auch im Auftrag der Kampagnenleitung. Dieses Foto in der
Wahlnacht, in der Stunde des Triumphs, nach einem der teuersten und
schmutzigsten Wahlkämpfe in der US-amerikanischen Geschichte zu versenden, ist
ein gewagter PR-Coup. Der Präsident triumphiert nicht über seinen Gegner,
sondern schließt mitten im Rampenlicht, in den Armen seiner Frau, die Augen.
Ein Moment außerhalb der Welt - dass es Tufankijan gelang diesen Augenblick
festzuhalten, macht die Stärke ihres Bilds aus. Die PR-Leute von Obama haben
begriffen, dass es nach dem Untergang der alten hierarchisch organisierten
Medien, nicht mehr auf die gelungene, abgesprochene Inszenierung ankommt:
gerade die horizontal, rhizomatisch verknüpften sozialen Medien, in denen sich
jeder selbst inszenieren kann, gieren nach Wirklichkeit. Das Bild der Obamas
war "real", nicht inszeniert, es schenkte uns Voyeuren eine Illusion
von Wahrheit. Wir wollen nicht, dass der Präsident uns anschaut, weil wir den
Bildern schon lange nicht mehr trauen, wir wollen ihn sehen. Die Verwendung des
Fotos war ein kalkulierter Bruch mit dem PR-Regelbuch, der bald Nachahmer
finden wird.
Aber
es gibt noch anderes in diesem Foto. Es hat leicht erkennbar eine symbolische
Funktion und zeigt die Seite Obamas, die in den Jahren seiner Präsidentschaft
verloren gegangen war. Als andere Bilder verbreitet wurden, das des coolen
Strategen, der im Kontrollraum der Macht, die Ermordung seines Feindes
betrachtet, während sich die Außenministerin die Hand vor den Mund hält. Auch
dieses Foto ein infamer, kalkulierter PR-Coup, war aufgrund seiner Authentizität
ein viraler Erfolg. Immer öfter
wirkte Obama fremd und distanziert, wie auf dem Foto aus dem Kontrollraum, es
fehlte das Leichte und Tänzerische, das seine Bewegungen früher ausmachte. Eine
bekannte Kolumnistin verglich ihn mit Spock aus dem Raumschiff Enterprise, der
Freak, der nicht ganz zu "uns" gehört, weil er keine Gefühle habe.
Doch wissen wir es aus seinen Auftritten in Abendshows: er ist ein Mann mit
"Soul". In der klassischen Soul-Musik gab es ja mindestens zwei
Bilder des Mannes. Die großen Sängerinnen wie Aretha Franklin sangen oft über
den unwiderstehlichen Mann, der das Vertrauen missbraucht, dem Trickser, der
die Hoffnungen nicht erfüllt. You're no good, aber dann doch immer wieder gut
genug für eine Nacht der Illusion. Im Gegenzug flehten die großen Soulsänger
wie Marvin Gaye um Vergebung für all die Versprechen, die sie nicht halten
konnten. In ihren größten Momenten verschmolz die Soulmusik Erlösung und
Sexualität, die Kirche und den Nachtclub. Der Trickser, Lügner und Betrüger
kehrt zurück in einen Schoss, wohin sonst. Auch diese Rückkehr ist diesem Bild
eingeschrieben. Wie alle im Kern schüchternen, menschenscheuen, aber nicht
unbedingt unsicheren Menschen, ist Obama wahrscheinlich misstrauisch und
verschlossen. Seine Gegner hatten es leicht von ihm das Bild des Tricksers zu
zeichnen, weil er so undefiniert schien, die Festlegungen vermied, immer umgibt
ihn eine vielleicht auch attraktive Unschärfe. In seiner Frau umarmt Obama
nicht sein Land, aber das fotografierte Wiedersehen mit ihr ist eine Erinnerung
daran, worauf es ankommt, auch in der Politik. In seiner Rede in der Wahlnacht
nahm er den vom Bild angesponnenen Faden auf, als er gelassen etwas Großes
bemerkte, nämlich dass der Streit in der Demokratie ein Zeichen der Freiheit
sei ("The arguments we have are a sign of our liberty."). Nur weil
der Streit uns trennt, können wir uns in Freiheit wieder finden. Jeder Umarmung
geht die Trennung voraus. Mit Obama haben sich die zerstrittenen Bürger der
Vereinigten Staaten in ihrer Mehrheit für ein Bild von sich zu entschieden, das
ihnen besser gefällt, als das des rechthaberischen Moralisten, der anderen ihre
Fehler vorhält. Es ist das Bild des reumütig zurückkehrenden Sünders.
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