Montag, 12. November 2012

WORT-SCHATZ (15): Verstellung




dasz sie gelenkig ist, verstellung leiden kann, 
nicht starr an hals und stirn 



Martin Opitz


Sie braucht dringend eine Verstellung. Wo ist die kleine Schraube, deren Drehung alles ein wenig und genau in die richtige Perspektive verschiebt? Den linken Fuß belasten, fest auf der ganzen Fußfläche stehen, rechts anheben, das Knie anwinkeln. Mit beiden Händen unter den Oberschenkel fassen. Druck und Gegendruck. Das stärkt die Schultermuskulatur. Starke Schultern sollten mehr tragen. Mein Nacken schmerzt, aber es hat mich niemand geschlagen. Dennoch erscheint plötzlich alles verschoben. Sie verändert willkürlich die Sitzungsordnung. Schiebt den eigenen Schreibsessel ins Zentrum. Sie saß noch nie alleine am gedeckten Tisch. Selbstsicher schaut sie in die Runde. So geht es trotzdem nicht. Der Stuhl muss weg, ein Sofa her. Die Froschperspektive. Unangenehm. Darauf kommt es ihr an.


Verstellung, liest sie, sei aus dem Schwedischen übernommen. Von dort kommen also nicht nur ekelerregenden Mordmethoden! In den heiligen Gemächern der Poesie dreht sich alles um die Verstellung. Symbolische Gestaltung ver- und enthüllt verstellend gewählteste Wahrheiten. Das kann sehr unleidlich wirken. Unschickliches gar gilt zuletzt als Entstellung (An dieser Stelle erhebt aber die Ästhetik des Hässlichen ihren berechtigten Einspruch.) 


Bevor allerdings die Wahrheitsapostel, Wissenwoller und Idealisten die Herrschaft über das deutsche Denken und die deutsche Sprache übernahmen, war Verstellung schlicht eine gefragte und beliebte Verkleidungstechnik. Wer sich nachlässig kostümierte und zurechtmachte, den traf die Verachtung des Publikums. Da hat sich nach dem Tod der Gottschedin einiges verändert. Nicht zum Besten, auch nicht für das heterosexuelle Paarwesen.(Notiz im Hinterkopf: Für die Rubrik Un-Perfekte Paare- Gottsched und die Gottschedin.) Seither können Männer keinen Lidstrich mehr ziehen und sind stolz drauf, dass sie sich ungeschminkt in Gesellschaft wagen. Kaum einer schafft es noch stundenlang zu sprechen, ohne etwas zu sagen. (Heutzutage heißt das Small talk und was sich ein Intellektueller nennt, klopft sich auf die Schultern, die ungestärkten, und bestätigt sich wohlwollend die eigene Ungeschicklichkeit darin.) Man will nicht unterhalten ("Kulturindustrie"), ist aber dennoch gekränkt, wenn man als wenig unterhaltsam gilt. 

Es ist und war allerdings, so wusste Herder hellsichtig, keine Verstellung, dass "in vielen Gegenden die mannbaren Töchter zur beschwerlichen Ehe gezwungen werden müssen". Nein, das ist ein armseliger Mythos, der aber seit Jahr und Tag weitererzählt wird in mancher Männerrunde aus durchschaubarem Bedürfnis und mangelnder Verstellungskunst: Dass die Frauen sich bloß verstellen, wenn sie sich dem Zugriff entziehen. Stattdessen wäre männlicherseits zu lernen: Wie der Enttäuschung verstellend ein freundliches  Gesicht zu verleihen ist. (Ein wenig Rouge auf den Wangen kann Wunder wirken. Ich halte auch viel von Eyeconcealer.) Die Verstellung ist die Kunst, das Unangenehme ins Erträgliche zu verwandeln. Wer allerdings die Verstellung als Täuschung einsetzt oder die Maske zur metaphorischen Wahrheit verklären will, dem gehört sie vom Gesicht gerissen, damit sich die nackte Larve in aller Erbärmlichkeit zeigt. (Notiz: Die Geste der Entblößung). 

Nackt sei nackt. (Bloß nicht, das ist nur in Ausnahmefällen vertretbar.)

Was halten Sie von einem Menschen, der seine Rede mit den Worten "Ehrlich gesagt..." beginnt...?

Schlussfolgerung
Besser ein dezentes Make up als eine prunkvolle Maske. Bloß kein Botox, bloß nichts unter der Haut verstellen. 

(meinen Söhnen gewidmet)


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