Als ich den ersten Teil „Wolf Hall“ der von
Hilary Mantel geplanten Trilogie über Thomas Cromwell las, war ich gefesselt
und begeistert. In meine Lektüre platzte die Nachricht, Mantel habe zum zweiten
Mal den Booker Prize gewonnen für die Fortsetzung „Bring up the bodies“. Trotz meiner Begeisterung war ich skeptisch. War diese zweite
Auszeichnung nötig? „Wolf Hall“ ist ein großartiger Roman; aber gibt es nicht
viele andere Autorinnen, die den Preis auch verdient hätten? Doch „Bring up
the bodies“, muss ich zugeben, ist noch einmal eine unerwartete, weil nicht für
möglich gehaltene, Steigerung gegenüber der Erzählkunst, die Mantel schon in
„Wolf Hall“ entfaltet. „Mr. Secretary“, schreibt Hilary Mantel im Nachwort zu
„Bring up the bodies“, das zugleich eine Ankündigung des dritten Bandes ist,
sei noch immer „sleek, plump and densely inaccessible, like a choice plum in a
Christmas pie“. Sie wolle ihre Anstrengungen fortsetzen, „to dig him out“.
Mantel erzählt konsequent aus der personalen Perspektive Cromwells und dennoch bekommen wir ihn nicht zu fassen („Thomas Cromwell ist nicht zu fassen“). Die Leserin ist vielmehr aufgefordert, Cromwells Charakter, wie er sich
Seite um Seite entfaltet und verändert, zu studieren. Erinnerungen und Zukunftspläne müssen der jeweiligen Gegenwart angepasst werden, weil der Präsens die Zeitform dieses Romans ist. Cromwell wird als einer gezeigt, der sich erfindet für eine
Welt, an deren Fortschritt er durchaus mit eigenen Interessen mitwirkt, ohne
jedoch einem großen Masterplan zu folgen. Mantels Erzählung wirft einen Blick
hinter die Kulissen der Macht, der Verschwörungstheoretiker als naive
Romantiker entlarvt. Es gibt niemanden, der die Zukunft nach seinen
Vorstellungen gestaltet; es gibt kein Gesetz, nach dem Geschichte gemacht wird. Es gibt wechselnde Beziehungskonstellationen und
„fruchtbare Momente“, in denen sich neue Möglichkeiten auftun. Manchmal werden
sie genutzt, manchmal bleiben sie ungenutzt.
In Cromwells Welt dreht sich alles
um das absolutistische Zentrum, um Henry VIII, einen zunehmend unberechenbarer
werdenden König, imposant durch Statur und Status, angetrieben von seiner Libido, geängstigt durch Religion und
Aberglaube. Cromwell hat Ideen und er
arbeitet an ihrer Umsetzung: eine Reform des absolutistischen Staates zugunsten
von mehr parlamentarischer Kontrolle, die Entmachtung und Enteignung des
Klerus, einen ökonomischen Aufschwung des Inselreiches durch
Produktionssteigerungen in der Agrarwirtschaft und nicht zuletzt den Aufstieg und Wohlstand
der Familie Cromwell. Er betreibt Politik geradeso, wie es auch
aus Angelika Merkels Umfeld heißt: „auf Sicht“. Ihn treibt nicht die große
Vision, sondern die Gestaltungsmöglichkeit des Augenblicks.
In "Wolf Hall" erzählte Mantel vom
Aufstieg Cromwells zu Henrys engstem Berater nach dem Niedergang seines
Mentors Kardinal Wolsey. Cromwell,
so lernt die Leserin ihn kennen, ist ein Mann, der sich einzurichten versteht:
in seinem Haus in Austin Friar eine Umgebung der Behaglichkeit und des
Wohlstands schaffend, seine Beziehungen mit den Mächtigen bei Hof durch scharfe
Beobachtung und weise Zurückhaltung ausbauend, im Dickicht juristischer und
theologischer Verwicklungen um die Ehe Henrys und die
Reformation der englischen Kirche mit Bedacht eine Bresche schlagend. Cromwell,
wie Mantel, ihn in "Wolf Hall" zeigt, ist ein Mann, der seine
Erfahrungen nützt, lernfähig und anpassungswillig ist. Sein Gegenspieler in
´Wolf Hall´ ist Thomas Morus und was die beiden unterscheidet ist eben, dass More ein
Überzeugungstäter ist, während Cromwell pragmatisch darauf setzt, das
"rule of law" zu etablieren. Gesinnungsfragen interessieren ihn nicht. Die
Durchsetzung des Rechts ist aus seiner Sicht wichtiger als die Gerechtigkeit, wenn es darum
geht, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Cromwell hat das Gesicht eines Mörders, so wird im Roman
mehrfach beim Anblick des Porträts, das Hans Holbein von ihm malt, gesagt. Doch Mantel lässt uns in „Wolf Hall“ nicht
in sein Herz, die Mördergrube, schauen. Cromwell erscheint jedenfalls nicht begeistert von den
Opfern, die sein Kurs fordert. Er will niemanden „innerlich“ überzeugen; ihm
reicht, anders als Morus, die formale Unterwerfung.
„Wolf Hall“ war der Beginn eines überaus
anspruchsvollen Puzzles, vor das Mantel die Leserinnen stellt, immer wieder fügt
sich ein Teil, immer wieder muss eines verschoben werden, weil es nicht mehr
passt. Das unvollständige Bild Cromwells, das entsteht, ist an manchen Stellen
düster und unheimlich, aber auch geprägt vom Streben nach Frieden, und Sicherheit, vom Unwillen gegen sinnlose Brutalität und von Trauer um den
Verlust seiner Frau, seiner Kinder und seines Mentors Wolsey. "Wolf
Hall" ist eine Metapher für die wölfische Umgebung, in der Cromwell
agieren muss, um zu überleben. "Wolf Hall" ist
aber auch der Name des Wohnsitzes der Familie Seymour, ein Ort inzestuöser
Verstrickungen und Täuschungen, von dem die unscheinbare Hofdame Jane abstammt, auf die Cromwells immer aufmerksamer Blick bei
Gelegenheit fällt. Aber Cromwell weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was wir
schon wissen: Dass die kleine Jane es ist, die Anne Boleyn zu Fall
bringen wird. Doch Cromwell ist auf der Hut und hält auch das Unwahrscheinliche für möglich.
Deshalb wird er eher als andere erkennen, was die Stunde geschlagen hat und
rechtzeitig die Seiten wechseln.
In „Bring up the bodies“ beschleunigt Mantel das Tempo der
Erzählung. Anne Boleyns Triumph ist nicht von Dauer. Sie hat die Waffen
einer Frau eingesetzt, aber das sind Waffen, die sich gegen sie selbst richten
können. Alles hängt vom Körper ab: seiner Attraktivität und seiner Fertilität.
Sie erleidet Fehlgeburten. Der König wendet sich von ihr ab. Cromwell muss
umdisponieren und Jane ist zur Hand. „Bringing up the bodies“ beginnt mit dem
Flug der Falken: „His children are falling from the sky. He watches from
horseback, acres of England streching behind him, they drop, gilt-winged, each
with a bloot-filled gaze. Grace Cromwell hovers in thin air. She is silent as
she glides to his fist. But the sounds she makes then, the rustle of feathers
and the creak, the sigh and riffle of pinion, the small cluck-cluck from her
throat, thes are sounds of recognition, intimate, daughterly, almost
disapproving. Her breast is gore-streaked and flesh clings to the claws.“
Cromwell hat seine Falken nach seinen toten Töchtern genannt: Grace und Anne. Die Toten geben keine Antworten. Sie haben
mit niemandem Mitleid. Die Toten sind tot. Thomas Cromwell hat gelernt damit zu
leben, dass der Tod sinnlos ist. Aber er vergisst nichts. „Bringing up the
bodies“ erzählt vom Fall Anne Boleyns. Jede Leserin weiß, dass die Königin am
Ende geköpft wird. Aber Anne, in Hilary Mantels Roman, weiß es nicht. Sie hofft
bis zum Schluss, noch auf dem Schafott, dass ein Bote des Königs Vergebung und
Rettung bringt. "Bringing up the bodies" beginnt in "Wolf Hall", jenem Ort, der dem ersten Band den Namen gab, der aber dort noch nicht zum Schauplatz wurde. Der Hofstaat macht hier Station und Henry geht mit Jane im Garten spazieren. Die Königin ist fern und Cromwell beginnt zu ahnen, was seine nächste Aufgabe sein wird.
Mantels Meisterschaft zeigt sich darin, dass
sie uns eine Geschichte erzählt, die wir schon kennen, deren Ausgang uns nicht
überraschen kann und wir dennoch atemlos und gespannt jeder Wendung des
Geschehens folgen. Wie Cromwell lesen wir gründlich „The Book Called Henry“ , denn von dessen Satzung hängt alles ab: „As a young man, praised fort he sweetness of his nature and
his golden looks, Henry grew up believign that all the world was his friend and
everybody wanted him to be happy. So any pain, any delay, frustration or stroke
of ill-luck seams to him an anomaly, an outrage. Any activity he finds wearying
or displeasant, he will try honestly to turn into an amusement, and if he
cannot find some thread of pleasure he will avoid it; this to him seems
reasonable and natural. He has councillors employed to fry their brains on his
behalf, and if he is out of temper it is probably their fault; they shouldn´t
block him or provoke him. He doesn´t want people, who say ´No, but...´He wants
people who say, ´Yes, and..´He doesn´t like men who are pessimistic and
sceptical, who turn down their mouths and cost out his brilliant projects with
a scribble in the margin of their papers. So do the sum up in your head where
no one can see them. Do not expect consistency from him. Henry prides himself
of understanding his councillors, their secret opinions and desires, but he is
resolved that none of his councillors shall understand him. He is suspicious of
any plan that doesn´t originate with himself, or seem to. You can argue with
him but you must be careful how and when.“
Cromwell hat sich in jenen Mann verwandelt,
den Henry braucht. Er hat ihn gebraucht, um die Scheidung von Katherine
durchzusetzen; jetzt gilt es Anne loszuwerden. Denn der König will einen Erben
und Jane. Cromwell reagiert. Es ist ein Akt auf Messerschneide. Er ist umgeben
von Feinden, die nur darauf warten, dass er einen Fehler macht. Cromwell ist
der Außenseiter, ohne adlige Herkunft, ohne Hausmacht. Cromwell kann sich auf
nichts stützen außer auf seine Lebenserfahrung und auf Henrys Bedürfnisse. Als
der König bei einem Turnier stürzt und für Stunden das Bewusstsein verliert, erlebt Cromwell wie gefährdet er ist. Wenn Henry stirbt, ist er vernichtet.
Die Geschichte hätte von jenen Stunden aus einen völlig anderen Verlauf nehmen
können: Die Boleyns übernähmen die Regentschaft. Anne könnte erneut heiraten.
Wen? Würde sich der alte Adel gegen die verhasste Königin erheben? Cromwell
weiß: Er ist sicher, solange der König ihn braucht. Die Königin, die Henry los
werden will, muss schuldig sein und Mitverschwörer haben. Cromwell liefert:
„Bringing up the bodies“. Er kennt die Schuldigen. Es werden jene Männer sein,
die Cromwells Ermittlung als Liebhaber Annes entlarvt, die Wolseys Fall und
Tod verursacht haben: „Then you say, I can´t endure this any more. I must
breathe: you burst out of the room and into a wild garden where the guilty are
hanging from trees, no longer ivory, no longer ebony, but flesh; and their wild
lamenting tongues proclaim their guilt as they die. In this matter, cause has
been precedes by effect. What you dreamed has enacted itself. You reach for a
blade but the blood is already shed. The lambs have butchered and eaten
themselves. They have brought knives to the table, carved themselves, and
picked their own bones clean.“ Der
König ist entschlossen und Cromwell nutzt die Gelegenheit, jene loszuwerden,
die er für den Tod seines geschätzten Mentors verantwortlich macht. Alle haben
Interessen und keiner ist unschuldig. Cromwell weiß, dass es jeden und jede
treffen kann. Aber er weiß noch nicht, was die Leserin nicht bloß ahnt: Sein König wird
auch Cromwell ans Messer liefern. Bald schon.
Im
Zentrum von Mantels Roman steht der Mann Cromwell, aber seine Autorin weiß,
was er sich zu eigen macht: dass jenseits der Welt der mächtigen und machtlosen Männer eine der Frauen
existiert, in der eben so gekämpft und gelitten wird, aber andere Waffen eingesetzt werden müssen. Die Frauen in Cromwells Haushalt und an Henrys
Hof haben weniger Spielräume als die Männer. Aber sie sind deswegen nicht
weniger intrigant, schlau,
liebevoll oder boshaft. Sie setzen ihre Mittel ein, jede auf ihre Art. Anne
trägt den Kopf hoch und schickt Botschaften aus den Augenwinkeln. Jane senkt
den Blick und legt die Fingerspitzen aneinander. Sie spielen um einen hohen
Einsatz, um ihren eigenen Körper, der dem aufgedunsenen König ins Bett gelegt
werden muss. Alles kann falsch sein: zuviel oder zuwenig Zurückhaltung,
sexuelle Erfahrung oder völlige Unerfahrenheit. Jede Frau ist, mehr noch als
jeder Mann, ein Teil des Familienbesitzes, der zu einem möglichst hohen Preis
verkauft werden soll. Wenn Frauen bösartig sind, hinterhältig und skrupellos,
dann kann das keinen überraschen, der so genau hinschaut wie Thomas Cromwell.
Jede wehrt sich eben so gut sie kann, gegen die permanente Erniedrigung. Das
Risiko ist hoch, so oder so, denn wenn der Mann „nicht kann“, ist immer die
Frau schuld: „In such circumstances, the man blames the woman, as often as not.
Something she has done, something she has said, the black look she gave him when
he faltered, the derisive expression on her face. Henry is afraid of Anne, he
thinks. But he will be potent with his new wife.“
Thomas Cromwell hat die erforderlichen
Leichen zusammengebracht. Er ist noch einmal höher geklettert auf der
Karriereleiter: „Summer, 1536: he is promoted Baron Cromwell. He cannot call
himself Lord Cromwell of Putney. He might laugh. However. He can call himself
Baron Cromwell of Wimbledon. He ranged all over those fields when he was a boy.
The word ´however´is like an imp coiled beneath your chair. It induces ink to
form words you have not yet seen, and lines to march across the page and
overshoot the margin. There are no endings. If you thinks so you are deceived as
to their nature. They are all beginnings. Here is one.“ Cromwell ist fassbarer
geworden. Für die Leserinnen und für seine Feinde bei Hof. Das ist gefährlich.
Das wird man sehen. Darauf bin ich gespannt wie ein Flitzebogen, wie Hilary
Mantel Cromwell zu fassen kriegt. Sie wird ihn ausgraben, soviel ist sicher. Aber
wie sie ihn kriegen wird, dass ist spannender, für mich zumindest, als die Saga
der Tudors.
Man muss für dieses Buch keine Werbung mehr
machen.Trotzdem: Weihnachten kündigt sich an und vielleicht suchen Sie noch
nach Ideen für Geschenke. Ich sage nicht, dass Sie mit diesem Roman nichts
falsch machen können: Wer nicht gern Belletristik liest, für den ist ein Roman
ohnehin kein geeignetes Geschenk. Wer weiter sein Vorurteil, historische Romane
seien literarisch per se minderwertig, pflegen will, wird vielleicht eher
irritiert reagieren. Und auch Anhängerinnen irgendeiner gängigen teleologischen
Geschichtsphilosophie könnten sich an der Erzählweise Hilary Mantels stören, in
deren Roman "Bring up the bodies" nichts zwangsläufig geschieht, sondern
vieles möglich ist und einiges eben wirklich wird. Für alle anderen: Das
ist meine Weihnachtsgeschenk-Empfehlung!
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