An
Istanbuls Stränden werden die Leichen junger Männer getrieben. Nach und nach
beginnt die Leserin zu ahnen, mit welcher scharfen Klinge deren Kehlen
durchtrennt wurden. Die Ermittlungsberichte beantworten die obligatorischen
Fragen der Rechtsmedizin. Nicht erwähnt werden regelmäßig in diesen Berichten
die Marken der Kleidungsstücke (Gucci, Lacoste, Marks & Spencer...), die die
Ermordeten trugen, und ihre Penisläng (mal 9 cm, mal 17 cm). Die Behörden
nehmen wohl an, dass diese Tatsachen in keinem Zusammenhang zu den Taten
stehen. Perihan Magden lässt die Leserin andere Schlüsse ziehen.
Zuerst
las ich den Roman über die verzweifelte Liebe zwischen „Ali und Ramadan“ vonPerihan Magden und später erst „Zwei Mädchen. Istanbul Story“, der 2009 bei
Suhrkamp erschienen ist. Dass beide Romane, der über die schwulen Waisenjungen
und dieser hier über die Freundschaft zweier junger Mädchen, die gegen ihre
Familien aufbegehren, in der Türkei zu Bestsellern werden konnten, zeigt, wie
wenig die Stereotype, die hierzulande über die Türkei im Umlauf sind, die
vielfältige Realität des Landes abbilden.
Schauplatz
beider Romane von Perihan Magden ist Istanbul, ein Istanbul, wie ich es nicht
gesehen habe, allenfalls geahnt in den von den großen Prachtboulevards
abzweigenden dunklen Gassen der Altstadt, in den Mietskasernen der Wohnviertel,
in den Blicken mancher Männer, die Erdnussschalen kauend an der Kaimauer
standen. Doch waren Machogehabe, herablassende Blicke und plumpe Anmachen in
jenem Istanbul, das ich kennenlernte, nicht ausgeprägter oder widerlicher als
in jeder beliebigen deutschen Stadt an jeder beliebigen Trinkhalle. Im
Gegenteil lernte ich in Istanbul mehr höfliche und charmante Männer kennen, die
Frauen respektvoll begegneten, als bei so manchem Kongress in
Deutschland. Vielleicht lag es an dem Milieu, in dem wir uns bei unserer
Dienstreise bewegten.
Perihan
Magdens Protagonistinnen jedenfalls bewegen sich in einem Istanbul, das noch
vollkommen geprägt ist von patriarchalischen Strukturen. Frauen und mehr noch
Mädchen sind Verfügungsmasse, auf ihre körperliche Attraktivität und
Benutzbarkeit beim Sex und im Haushalt reduziert, abhängig und entwürdigt. Manche
Frauen wollen es selbst so, scheint es. Manche können sich nichts anderes vorstellen. Zwei Mädchen
stehen im Mittelpunkt dieses Romans, der nur 17 Tage umfasst. 17 Tage, in denen
die Welt der rebellischen Behiye und der schönen Handan aus den Fugen gerät,
weil sie aneinander geraten, weil sich Behiye Hals über Kopf in Handan verliebt
und Handan sich an Behiye klammert. Die intelligente Behiye hat einen guten
Schulabschluss gemacht, ein Universitätsstudium steht ihr offen. Aber das ist
es nicht, was sie will. Behiye, weiß noch nicht was sie will, sondern nur, was
sie nicht will: ihre Familie, die ungeschickte und jammernde Mutter, für die sie
sich schämt, der verhärmte und verschlossene Vater, ihr nationalistischer Machobruder, der bei einer Bank arbeitet. Eines Tages lässt sie sich unter
einem Baum mitten auf dem Bürgersteig fallen. Sie hat dieses Gefühl: DAS
GEFÜHL, GERETTET ZU WERDEN. Perihan Magden schreibt die Worte und Bilder, die
Behiyes Bewusstsein für ihr Innenleben findet, immer wieder in Großbuchstaben.
Es gibt noch keinen Hinweis darauf, worin die Rettung bestehen könnte. Wenig
später trifft Behiye zufällig Handan, die wunderschöne Handan, Tochter der Frau
Leman, die ihren Lebensunterhalt durch Männerbekanntschaften bestreitet. Handan
ist nicht klug, sie ist kindlich, rosa, süß und durch die Aufnahmeprüfung der
Universität gefallen. Handan ist erzogen dazu, Männern zu gefallen. Andererseits
wünscht sich ihre Mutter für Handan ganz bestimmt ein anderes Leben als jenes,
das sie selber führt. Am anstrengendsten an Frau Lemans Lebensform ist nämlich
nicht, dass sie den Männern zu Willen sein muss, deren Mätresse sie für kürzer
oder länger wird, sondern wie sie sich selbst weis machen kann, sie empfinde
etwas für diese Kerle, etwas wie "Liebe". Es gibt aus der Perspektive dieser
Frauenwelt, in der sich Handan bewegt, nur Männer, die man benutzen kann und
solche, die nicht zu benutzen sind, weil sie entweder zu widerlich sind oder zu
dämlich. Die Männer haben keine Ahnung, was die Frauen bewegt und was sie
wollen, und es interessiert sie auch nicht, aber die Frauen verstehen alles
davon, wie sie es den Männern recht machen und was sie aus ihnen rausholen können. Das ist das Wissen,
das Handan von ihrer Mutter mitbekommen hat. Behiyes Mutter dagegen hat sie gelehrt,
gut zu kochen.
Aber als Behiye und Handan aufeinander treffen, spielen Männer erst
Mal keine Rolle mehr. BEHIYE UND HANDAN – für 17 Tage ist das alles, was zählt.
Behiye zieht bei Handan und ihrer Mutter ein und schläft auf der Couch. Sie
kocht für Handan; sie lernt mit ihr; sie überredet sie, miteinander
auszuwandern; sie beklaut ihren eigenen Bruder und hetzt die Tochter gegen die
Mutter. BEHIYE UND HANDAN. Eine leidenschaftliche Liebe. Nur 17 Tage. Denn von
Anfang ist diese vermeintliche Rettung vergiftet, an die Behiye so verzweifelt
glauben will: „Das Leben von SCHWESTER
NEVIN & CO. orientiert sich an dem der Männer. Mit hängender Zunge hetzten
die Frauen zu den Männern, sobald denen ein Treffen ´passt´. Sind bereit und willig. Ein bemitleidenswerter Haufen von
Frauen. Aber das ist eben die goldene Regel von SCHWESTER NEVIN & CO.: Befehlen mit ganzem Herzen Folge zu
leisten und sich hundertprozentig zu unterwerfen. Das macht Behiye fertig.“ Behiye wird herausgeworfen aus
der Frauenwohnung, zurückgeschafft in die elterliche Wohnung, in das
demütigende Einerlei des geduckten und verdrucksten Lebens ihrer Mutter und ihres verstummten Vaters.
Behiye, die so stark schien und so rebellisch, ist „am Ende. Am Ende. Ende.“
Und Handan, die so schwach und dumm schien, hat sich abgesetzt, zu ihrem Vater
nach Australien. Aber die Leserin weiß: Es ist Behiye, die die Klinge hat und
führt.
Leichen
werden an Istanbuls Strände gespült. Die Rechtsmedizin fragt nach Verletzungen:
„Wie lange hat die Person nach der Verletzung noch gelebt?“ Wie lange hat
Behiye noch gelebt, nachdem sie Handan verloren hat? Die Leichen haben tiefe,
lange Schnitte am Hals, sonst keine Verletzungen.
Perihan
Magden hat ein verstörendes Buch über verstörte Mädchen geschrieben. Immer ist
JETZT. Gegenwart. Sie können sich nicht erinnern. Es gibt kein Zurück. Behiye
hat Worte: EROSIONSPANIK. ALKOHOLWOLKENWOCHE. HANDAN-DEFIZIT. SCHMERZFABRIKEN.
HANDAN. Handan hat ihre Schönheit. Und das Wissen darum, wie eine sie einsetzt. Handan hat, was die
Mutter ihr beigebracht hat. Handan lässt die Mutter im Stich. Und Behiye. Am Ende. Hinter sich. Verletzungen. Wie viele Verletzungen gibt es? Wie viele kann eine
ertragen? Wer verletzt wen?
In diesem Roman von Perihan Magden sind die Frauen nicht die Opfer. Alle Leichen sind männlich. Da besteht ein Zusammenhang.
Perihan Magden: Istanbul-Story. Zwei Mädchen, Suhrkamp, € 9,90
Perihan Magden: Istanbul-Story. Zwei Mädchen, Suhrkamp, € 9,90
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