Samstag, 5. Januar 2013

Großes Kino, kleiner Hobbit


Ich war mehr als skeptisch: Tolkiens schlankes Kinderbuch "Der kleine Hobbit" aufgebläht auf drei x drei Stunden? Da, so dachte ich, ist die Langeweile vorprogrammiert. Also: Ich war keineswegs überzeugt von der Idee, aus dem "Kleinen Hobbit" großes Kino zu machen, obwohl ich Sagen und Märchen sehr gern mag. Ich mag auch Tolkiens fantastische Welt aus Elben und Zwergen, Orgs und Zauberern, diese Fülle an Zeitaltern und tragischen Verstrickungen. Schon als Kind habe ich das geliebt: Landkarten und Stammbäume einer fantastischen Welt aufzuzeichnen, ein komplettes Parallel-Universum mit eigener Geschichte, Sitten und Bräuchen anzulegen. Wie die Brontë-Geschwister Angria und Gondal erfanden, so habe auch ich viele Hefte voll geschrieben mit Lebensläufen, Ortsbeschreibungen, Karten und Stadtplänen für meine eigene kleine Fantasiewelt, das Reich von Vendalor. Es gab Gefangene in düsteren Höhlen, verwunschene Gärten (ach, die verschlungenen Pfade, die Vielfalt des Grüns) und wüste Gelage. Mein Bruder und ich malten auf riesige Pappen Wälder, Berge, Seen und Dörfer für komplizierte Würfelspiele, bei denen man sich durch das magische Reich zum sagenhaften Schatz durchschlagen musste. Es ist etwas Wunderbares, eine solche eigene Welt zu schaffen, sie bis in die kleinsten Verästelungen zu planen und zu gestalten, Kleidungen, Rituale, Familienstammbäume und vor allem Namen zu erfinden. 

Und genau darauf kommt es an: Auf die unverstellte, kindliche Lust am Gigantischen wie am kleinsten Detail. Alles ist wichtig und kann Bedeutung erlangen. Alles ist aufgeladen mit sagenhaftem Glanz, voller Magie, Kraft, überschäumender Freude, gräßlicher Angst, wildem Mut, stiller Trauer. Alles muss genau so sein, kann nur so stimmen, obwohl es vollkommen willkürlich erfunden ist. Aber wenn so eine Welt einmal existiert, die Figuren einmal zum Leben erwacht sind, die Schwelle ins magische Reich einmal überschritten ist, dann gelten die dortigen Regeln und die wichtigste von allen ist: Nimm es ernst, aber sei heiter. Im Märchen, auch das schrieb ich schon einmal, geht es nicht um Folgerichtigkeit oder die "Moral von der Geschichte". Es kommt nichts, wie es kommen muss, sondern alles ist, wie es ist. Im Märchen zieht man in ein Abenteuer, weil man weg muss und nicht, weil man was loswerden will. Das Abenteuer ist keine Kritik an der Welt, sondern ihre Veränderung; dadurch, dass man selbst als eine andere zurückkehrt (wenn man zurückkommt). Es geht auch nicht darum, was zu lernen, sondern reich zu werden, reicher an Erfahrungen vor allem. Das sind die Gründe, warum ich Märchen liebe: Weil im Mittelpunkt die Handlung steht und die Frage: Wohin?, aber nicht das Spekulieren und die Frage: Warum?

Ich war also skeptisch, als wir ins Kino aufbrachen, gerade weil ich den "Kleinen Hobbit" mag, das Buch schon als Kind geliebt und später wieder mit meinen Söhnen gelesen habe. Sogar das Spiel habe ich gerne gespielt mit dem grauslichen Drachen Smaug auf dem Berg und den kunterbunten Edelsteinen. Für mich hat das Buch genug von allem gehabt und ich konnte mir nicht vorstellen, wie Peter Jackson einen dreistündigen Film daraus machen konnte, der zudem nur der erste Teil einer Trilogie sein sollte. Trotz aller Skepsis wollte ich den Film nicht verpassen, Morel ebenso wenig. Unsere Söhne, die ihn schon gesehen hatten, waren geteilter Meinung. Amazing fand ihn wunderbar, Mastermind eher "zu lang", wie auch wir befürchteten. Und dann saßen wir da mit unseren 3D-Brillen und lachten und hatten Tränen in den Augen und waren drei Stunden lang amüsiert, gerührt, vergnügt. Gelangweilt haben wir uns keine einzige Minute. Als der Film zu Ende war, fragte Morel: "Schon rum?"

"Der kleine Hobbit" ist kein Film fürs Heim-Kino auf DVD. Er ist ein Film, der die Möglichkeiten der großen Leinwand, der 3D-Technik, des Dolby-Surround-Systems voll auskostet. Er ist großes Kino. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die Produktionen verachten, die sich mit einer Fernsehtechnik begnügen. Aber Kino ist was anderes! Ich erinnere mich, wie geschockt ich war, als ich den ersten mit Videotechnik produzierten Kino-Film sah: "Sex, Lügen und Video". Ich fand das damals ganz furchtbar: die mangelnde Tiefe des Raums, die öden Farben, den miesen Klang. Seitdem hat sich diese Art der Produktion zu einer eigenen "Kino-Kunstform" gemausert (Ich setze das in Anführungsstriche, weil es ein Misch-Masch ist, den ich selbst weniger mag. Ich stehe auf Kino "pur" oder Fernsehen "pur".) Viele Leute schauen sich die meisten Filme inzwischen von der heimischen Couch aus auf der Mattscheibe an. Auch wir haben eine wachsende Sammlung von DVDs, einfach deshalb, weil viele der alten Filme, die wir schätzen, in Deutschland (außerhalb Berlins) so gut wie nie mehr im Kino gezeigt werden. Dennoch ist es ein riesiger Unterschied: Ein Film, wie z.B. Alfred Hitchocks "Immer Ärger mit Harry" ist im Fernsehen einfach eine ganz nette Komödie. Im Kino ist es ein großartiger Film wegen des avantgardistischen Umgangs mit den Farben und der geradezu expressiven Art, in der die Landschaft inszeniert wird (wenn auch nicht ganz freiwillig). Ich erinnere mich noch immer mit einem spontanen Lächeln auf dem Lippen daran, wie leidenschaftlich Walter Schobert, der viele Jahre das Filmmuseum in Frankfurt leitete, uns im Studium für das "richtige" Kino begeisterte und mit vielen "alten" Klassikern auf der großen Leinwand vertraut machte. Selbst ein Schwarzweiß-Film wie "The General" von und mit Buster Keaton ist "pures" Kino und funktioniert auf der kleinen Mattscheibe nicht halb so gut. Das europäische Kino hat dagegen (z.T. sicher aus Geldmangel) den Unterschied zwischen "Kino" (gegebenfalls als "E"-Kultur anerkannt) und "Fernsehen" (Unterhaltungs"ware", nicht kunstfähig) zu einem der Autorschaft gemacht ("Autoren-Kino"). Großes Kino ist hierzulande kein Kino der Schau, sondern des individuellen künstlerischen Anspruchs (des Autor-Regisseurs); pure Schau-Werte sind dagegen eher bäh!, weil massentauglich.

"Der kleine Hobbit" ist Schau-Kino at it´s best und "state of the art".  Es lohnt sich bestimmt nicht, diesen Film auf einer kleinen Leinwand, ohne 3D und Dolby Surround zu sehen. Für die Fernsehmattscheibe zuhause ist er erst recht nix. Das Kino als Kino aber wird nur mit solchen Filmen überlebensfähig sein: Filmen, die man im Kino sehen muss. Oder eben nicht. Eigentliche Hauptdarstellerin dieses Films ist daher auch die neuseeländische Landschaft, die ungeheure Tiefe des Raums, in dessen Sog man gezogen wird. Der Film ist durchaus auch komisch ("Tut, was Bilbo Beutlin hasst") und rührend (zum Beispiel die Beziehung zwischen Bilbo, dem bequemen Hobbit und Thorin Eichenschild, dem mutigen Zwergenkönig) und nachdenklich (Gandalf, der zugibt, den Hobbit mitgenommen zu haben, weil dessen Schlichtheit ihm die eigene Angst nehme). Die Figuren sind vielschichtig und glaubwürdig dargestellt, die Handlung wird nicht unnötig in die Länge gezogen, sondern bleibt jederzeit spannend. Aber der Film ist vor allem deswegen gelungen, weil er zeigt, was Kino heutzutage kann, ohne dauernd mit der Technik zu protzen. Die 3D-Effekte werden zurückhaltend eingesetzt; es geht nicht darum, die Zuschauer zu schockieren oder zu überwältigen, sondern sie zu fesseln. Das gelingt. Drei Stunden lang. Unglaublich. Fantastisch. 

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Anmerkung: "Der kleine Hobbit" ist natürlich auch ein, wie mir eine schrieb, "Männer-Film". Für mich ist das o.k., wenn´s klar ist, dass es so ist! Was mich momentan mehr annervt als die Abwesenheit von Frauen in literarischen Werken oder Filmen ist ihre Schein-Anwesenheit als Wahnvorstellung eines männlichen Bewusstseins und dessen Romantik- oder Sex-Drive. Ich finde es als Leserin wesentlich interessanter, wenn Männer sich mit Männersachen, Männerfreundschaften, Vaterschaften oder auch Paarbeziehungen aus männlicher Perspektive beschäftigen, als wenn sie sich in der Einbildung suhlen, sich über Weiblichkeit ausdrücken zu können. Die Erzählung von einer Frau, wie sie sich ein Mann als Wunschvorstellung oder Gruselobjekt ausdenkt, so kommt es zumindest mir vor, ist schon tausendmal intertextuell, postmodern, dekonstruiert verwertet und verwurstet worden. (Rah bäh, schöne bleiche Frau, trister Blick, fade Melancholie, stille Sehnsucht, femme fatale, traurig-erbarmungsloser Fick in freier Natur, lange Zugfahrten durch dunkle Landschaften, tiefe Blicke durch spiegelnde Fenster, scharfes Dekolleté, Versenkung, Verfall, schön drapierte Leiche, rah bäh!) Frau weiß aus Romanen, Gemälden, Film und Fernsehen im Detail und großen Ganzen ziemlich genau und seit Jahrhunderten, wie Männer Frauen sehen und was sie sich über sie einbilden (nämlich vor allem: dass in ihrem Leben entweder ein Mann herrscht und/oder die Depression). So what? Gähn! Es ist bloß ärgerlich, wenn so was als Ausdruck von Weiblichkeit oder gar allgemeiner Menschlichkeit behauptet oder gelesen wird.

Schade bleibt´s weiterhin, wie sogar sympathische Männer sich weismachen, ihre eigene Literatur- oder Filmauswahl sei "geschlechtsneutral", besonders dann, wenn sie zu mehr als achtzig Prozent Literatur von Männern lesen oder beinahe ausschließlich Filme von männlichen Regisseuren anschauen. Einige wollen in dem Punkt halt mit Macht unaufgeklärt bleiben. Das hat Gründe. Vielleicht sogar gute, individuell verständliche. Ich finde es o.k., wenn Männer sich überwiegend mit Männeransichten und - weltsichten befassen. Und die interessanter finden als diejenigen von Frauen. Oder sich selbst wiederfinden wollen im voyeuristischen Blick eines Mannes auf "die Frau" als Wesen und Quelle. Es interessiert halt mich nicht. Heiter bleiben. Das gelingt mir fast immer. (Sonst könnte ich gar nicht mit drei Männern leben.) Nur dann nicht, wenn solcher Art Ansichten, Weltsichten und Wahrnehmungen sich als "gültige" inszenieren, allgemeine Relevanz behaupten und sich mit eindeutig formuliertem Desinteresse partout nicht abfinden können. 

Das Beste am vergangenen Jahr war, dass ich mir klarer darüber geworden bin, womit ich mich im Netz und in diesem Blog überhaupt beschäftigen, mit wem und über was ich diskutieren möchte - und was mir halt egal ist. Auch während meines Studiums musste ich diesen Prozess durchlaufen: von der Achtung vor dem "Kanon" (bzw. den Relevanz-Behauptungen) über seine Kritik hin zur Unabhängigkeit davon. Als Bloggerin musste mein Avatar offenbar diese Erfahrung im Schnelldurchlauf wiederholen (welche Blogs sich für mich zu lesen lohnt, welche ich ohne Reue aus meinem Reader gestrichen habe), um eben jene gelassene Freude an Unterhaltung und Belehrung ("prodesse et delectare") zurückzugewinnen. Es war ein gutes Jahr 2012 für mich, in vielerlei Hinsicht vergnügter und freudvoller als die beiden Vorgängerjahre, die ersten beiden als Bloggerin. Ich habe Kontakte vertieft und mit anderen endgültig gebrochen. Das war fast immer wohltuend. Ich bereue rückblickend nur eines, nämlich den Bruch mit meiner Freundin P., ausgelöst durch Kommentare von ANH hier im Blog. Da hätte ich vielleicht anders reagieren können. Auch da ging es um den Blick eines Mannes auf eine Frau. Allerdings um einen, der sich als männlich geradezu ausstellte und nicht verstellte, sondern auf sich, den Mann, zurückschaute. Dennoch ist in dieser Kommunikation etwas schief gegangen, was mir noch immer weh tut.

Ansonsten: Ich gucke gern Männer-Filme, lese (seltener) auch Männer-Literatur. Nur für das, was Männer über und durch stereotype Frauen-Figuren (Hure und/oder Heilige, Frauenleben, die durch Männer definiert werden) sagen (wollen), interessiere ich mich zur Zeit nicht. Na und? Das sollte keinen ärgern, schließlich gibt´s genug Männer, die sich für kaum was anderes interessieren und die einer des anderen Ideen zum Thema eifrigst lesen. Die Zielgruppe bleibt groß genug, gelle? 

2 Kommentare:

  1. Mir geht es ähnlich. Die (heilige) Hure, die vom anderen Mann gevögelte Frau, die drüber böse wird oder sich in einen Engel verwandelt und dahinsiecht...Ja,ja, ja, alles wie gehabt. Schöne Opfer, böse Verführerinnen.

    Der Bechdel-Test auf die moderne Literatur angewandt - da bliebe nicht viel übrig :-). Kann trotzdem große Literatur sein (oder großes Kino!). Ich möchte trotzdem erstmal andere Frauenfiguren sehen oder von ihnen lesen. Männerlose? ;-).

    Herzlichen Gruß und alles Gute im neuen Jahr

    Frau Karli

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  2. Frohes Neues Jahr, liebe Frau Karli!

    Wir wollen das Kind mal nicht mit dem Bade ausschütten, wir beide, oder? Den Bechtle-Test überstünden wirklich nicht viele Romane, die zum "Kanon" der "Weltliteratur" gehören. Im männlichen literarischen Kosmos definieren sich Frauen halt über ihre Beziehungen zu Männern und sonst nichts. Es ist dennoch interessant, wie im Laufe des 18. Jahrhunderts aus dem Romanhelden der männlichen Autoren häufig die Romanheldin wird. Darüber habe ich schon mal hier im Blog geschrieben: Arbeit und Perversion
    Tatsächlich werden da Stereotype entwickelt, die im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen werden. Große Literatur entsteht zum Teil daraus.

    Wie Sie, möchte ich jetzt/momentan aber was Anderes lesen. Ich denke viel darüber nach, warum weibliche Autorinnen sich vergleichweise selten über einen männlichen Protagonisten ausgedrückt haben. Von den "klassischen" Romanen fallen mir da nur Emily Brontes "Wuthering Heights" und Edith Whartons "Ethan Frome" ein. Beide männlichen Protagonisten sind gesellschaftliche Underdogs und mittellos, in beiden Texten geht es sehr deutlich um (unterdrückte) Sexualität.
    Da gibt es Parallelen zu der Art, wie männliche Autoren ihre weiblichen Protagonistinnen "nutzen", aber auch deutliche Unterschiede.

    Na ja, das sind bisher unausgereifte Überlegungen.

    Liebe Grüße
    M.

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