Der
erste und der letzte Blick auf den 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten, den
dieser Film uns werfen lässt, nimmt die Perspektive schwarzer Männer ein. Zwischen
diesen beiden Blicken entfaltet sich ein spannender Thriller, der ganz überwiegend im Repräsentantenhaus und im Weißen Haus spielt, ein Kammerspiel über den Kampf weißer, männlicher Politiker um die Durchsetzung des 13. Zusatzartikels zur Verfassung der USA, der
die Sklaverei verbieten soll.
Auf den Schlachtfeldern des ersten modernen Krieges der Geschichte, des amerikanischen Bürgerkrieges, starben Hunderttausende,
darunter viele Schwarze in den Reihen der Union. Mütter verloren ihre Söhne,
Frauen ihre Männer, Schwestern ihre Brüder und Tausende von Frauen wurden durch
marodierende Truppen vergewaltigt, während in der Vertretung des Volkes allein
weiße Männer über Krieg oder Frieden, Sklaverei oder Freiheit,
Gleichberechtigung oder Diskriminierung entschieden. Stephen Spielberg zeigt
die Volksvertreter, wie sie ihre hochtrabenden Reden schwingen, rhetorisch
kunstfertig oder plump populistisch, während die, über deren Zukunft sie auch entscheiden, auf
der Tribüne bleiben müssen, aufs bloße Beobachten beschränkt: die Frau des Präsidenten
Mary Todd Lincoln (Sally Field), die auf einem Papier die Stimmen zählt, und ihre
Zofe, Elisabeth Keckley (Gloria Reuben), eine ehemalige Sklavin, der die Tränen
in die Augen steigen, als der „radikale“ Verfechter der Gleichheit Thaddäus
Stevens (Tommy Lee Jones) im Kreuzverhör seiner Gegner leugnet, dass die
Schwarzen den Weißen gleich seien, sondern wie ein Mantra sich den
Satz abringt, es gehe in diesem Verfassungszusatz allein um „Gleichheit vor dem
Gesetz“.
Spielbergs
Epos erzählt eine Geschichte, deren Parallelen zur Gegenwart geradezu erschütternd
sind. Um den 13. Zusatzartikel durch das Repräsentantenhaus zu bringen, muss der Präsident
kein doppeltes Spiel spielen, sondern ein drei-, ein vierfaches. Er muss seine
getreuen Außenminister William S. Seward (David Strathairn), der ihm die nötigen
Stimmen unter dem Demokraten durch
den skrupellosen und geschickten Strategen William Bilbo (James Spader)
zusammenkaufen lässt, belügen, indem er ihm das Friedensangebot der Südstaaten
verheimlicht und er betrügt den konservativen Flügel der eigenen Partei, der
diesen Frieden so schnell wie möglich und ohne den Verfassungszusatz zu verabschieden,
herbeiführen will und er muss die sogenannten „Radikalen“ um Thaddäus Stevens überzeugen,
sich zurückzuhalten und keine anderen Forderungen zur Gleichstellung der
Schwarzen zu erheben, bevor der Verfassungszusatz „durch“ ist. Politik ist ein
schmutziges Geschäft und Spielbergs Film lässt darüber keine Illusionen zu.
Politik ist aber nicht nur ein schmutziges Geschäft, das zeigt der Film auch:
Politik kann der Durchsetzung von großen Zielen dienen, für die Mehrheiten erst gefunden werden müssen.
Präsident Lincoln, wie Spielberg ihn zeigt,
ist kein leidenschaftlicher Überzeugungstäter, aber auch kein
Zauderer, sondern einer, der die Gelegenheit, den
historischen Moment, erkennt und ergreift und dann volles Risiko geht. Lincoln
hat diesen Krieg nicht begonnen, um die Sklaverei abzuschaffen und die Schwarzen
zu befreien, aber er lehnt die Sklaverei ganz grundsätzlich als Verbrechen ab
und als sich durch den Kriegsverlauf die Gelegenheit eröffnet, ein schmales Zeitfenster,
um die Vereinigten Staaten von Amerika von dieser Geisel endgültig zu erlösen,
will er die Chance unbedingt nutzen. Dafür ist ein hoher Preis zu bezahlen: Die
Fortsetzung eines verheerenden Krieges; die langen Listen der Gefallenen in den
Zeitungen, die Amputierten in den Hospitalen, ein verwüsteter, auf Jahre hinaus
zerstörter Süden. Lincoln weiß, was er auf sich nimmt und er trägt schwer daran.
Als er am Ende des Films, kurz vor dem Attentat, Ulysses Grant (Jared Harris) auf den
Schlachtfeldern trifft, sagt er ihm: „Wir beide haben einander die Möglichkeit
gegeben, grässliche Dinge zu tun.“ Und Grant stellt fest, dass der Präsident,
seit er ihn zum letzten Mal gesehen hat, um ein Jahrzehnt gealtert ist.
Daniel
Day-Lewis´ Darstellung des Abraham Lincoln in diesem Film ist brilliant, ohne
das Bild eines übermenschlichen Heldens zu entwerfen. Day-Lewis´ Lincoln ist
hinterhältig, verschlagen, als Politiker selbst ein unübertroffener
Schauspieler vor dem Herrn, der seine innere Komplexität geschickt hinter äußerlicher
Schlichtheit, auch der Sprache, zu verbergen weiß. Dieser Lincoln ist charmant und witzig; ein Mann, der seine Stärken kennt und einzusetzen weiß und
dessen Schwäche, die Unfähigkeit, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, in der
historischen Situation, in der er sich befindet, zwar privat tragisch ist,
aber politisch zielführend, denn nur ein so ambivalenter, sich selbst mit
Recht misstrauender Mensch kann im vertrackten, verminten und versumpften Geländer
des Washingtoner Politikbetriebs einen krummen Weg ausfindig machen, um das
Ziel zu erreichen.
Ein Höhepunkt des Films ist die Szene, in der Lincoln und
Stevens aufeinander treffen und die Lage im Weinkeller des Weißen Haus unter
vier Augen besprechen. Diese beiden Männer, wiewohl vereint in ihrer Ablehnung
der Sklaverei, könnten einander nicht unähnlicher und auch unsympathischer
sein. Der eine verschmitzt, seine Ungelenkheit kokett ausstellend, taktierend,
lavierend, mit großem rhetorischem Geschick stets die richtigen Worte für
sein Publikum findend, der andere verbissen, rechthaberisch, energisch mit
seinem Klumpfuss durch die Menge polternd und überall Freund und Feind
voneinander scheidend, so treffen sie aufeinander. Stevens verachtet den Präsidenten,
dem nach seiner Auffassung eine klare Linie fehlt, er findet dafür das Bild des
Kompasses, der immer nach Norden zeige. Und Lincoln gibt dem Rechthaber recht: Der Kompass zeigt immer nach Norden, Sklaverei ist falsch; aber der Kompass
zeigt nicht die Sümpfe an zwischen hier und dem Norden und wer geradeaus
marschiert, der kommt in ihnen um. Stevens wird sich das – widerwillig – zu
Herzen nehmen. Als ihm ein Mitstreiter nach dem Kreuzverhör durch die
rassistischen Demokraten vorwirft, er habe die gemeinsame Sache verraten, indem
er nicht offen für die Gleichheit der Schwarzen eingetreten sei, weiß er, dass
er nicht das Rechte, aber das Richtige getan hat. Ein Leben lang, sagt er, habe
er für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft, das sei der Preis gewesen und
der sei es ihm wert: Einmal nicht „die Wahrheit“ sagen.
Sie
gehen ein hohes Risiko ein, Lincoln und sein Stab, als sie in diesem
rassistischen Umfeld, in dem selbst die weißen Gegner der Sklaverei sich nicht
vorstellen können und wollen, dass Schwarze einmal das Wahlrecht haben könnten
(Am Ende, so ein Zwischenrufer im "Hohen Haus", käme es gar noch so weit, dass auch die Frauen wählen
dürften, und hat damit die Lacher auf seiner Seite.) den Krieg verlängern, um
die Zweidrittelmehrheit für das Verbot der Sklaverei in der Verfassung
zusammenzubringen. Spielbergs Film wirft dabei mehr als eine
demokratietheoretische Frage auf. Nicht nur, was es für die Legitimität des Staats und seiner Institutionen bedeutet, wenn
Entscheidungen nur von einem Teil der Bevölkerung (hier: weiße Männern) für alle anderen
getroffen werden, sondern auch die Frage, ob Vordenker in einer Demokratie das
Recht haben, eine Entscheidung voranzutreiben, die die Mehrheit (noch) nicht
will. Von seinen Gegnern wird Lincoln vorgeworfen, wie ein Diktator zu handeln
und tatsächlich wäre, so wie es der Film zeigt und die meisten Historikerinnen
bestätigen, der 13. Zusatzartikel nicht in die Verfassung aufgenommen worden,
wenn „Transparenz“ geherrscht hätte, d.h. wenn der Präsident allen Mitgliedern
des Repräsentantenhauses alle relevanten Informationen (insbesondere das Friedensangebot des Südens) zur
Verfügung gestellt hätte.
Was bedeutet dieses historische Wissen um die Mechanismen des
demokratischen Prozesses für die Gegenwart? Welche Rückschlüsse für aktuelle Akteure in politischen Konflikten ergeben sich daraus? Darüber regt dieser Film zum
Nachdenken an und daher ist er mehr als eine Selbstreflexion der
US-amerikanischen Nation über ihre historischen Wurzeln, sondern von Interesse
für alle, denen die Demokratie am Herzen liegt.
Es
wäre „LINCOLN“ aber kein Spielberg-Film, wenn es ihm nicht auch gelänge, große
Emotionen darzustellen und auszulösen und sein Thema nicht bloß über Worte,
sondern auch in überzeugenden Bildern zu formulieren. Abraham Lincoln sitzt am
Anfang des Filmes so statuarisch da, wie wir ihn als Washingtoner Monument
kennen. Er, der geniale Redner, dem Daniel Day-Lewis so eine verzaubernde
Stimme verleihen kann, spricht nicht. Er hört zu. Er hört seinen eigenen berühmten
Worte aus der
Gettysburg Adress zu, die ein junger schwarzer Soldat der Union ihm vorträgt.
Darin liegt gleichermaßen Selbstironie wie Pathos: „...the government of the
people, by the people, for the people, shall not perish from earth“. Aus dem
Munde eines Schwarzen erhalten diese Worte eine Bedeutung, der Lincoln
nachlauscht, die ihm selbst noch fremd ist und der er durchaus ambivalent,
zwischen Zuversicht und Sorge, entgegenschaut. Die Mienen der jungen Schwarzen
sind freundlich, aber skeptisch. Dieser Mann, vor dem sie stehen, ist (noch) nicht ihr Präsident. Sie kämpfen für das
Ende der Sklaverei, für ihre Freiheit, aber noch nicht für ihr Recht, Bürger
jener Nation zu sein, die er repräsentiert. In hundert Jahren, so glaubt der
junge Mann, der zurück in die Schlacht geht, vielleicht, werden schwarze Männer
wie er auch wählen dürfen.
In der Politik, so zeigt Spielbergs Film,
kommt es in den entscheidenden Momenten auf die Persönlichkeit individueller
Menschen an, auf ihre Bereitschaft und ihre Fähigkeiten, auf ihre Überzeugungen
und ihre Flexibiltät, nicht auf das richtige Programm oder die messerscharfe
Analyse. In Kontinentaleuropa wird über die „Personalisierung“ von Politik
meistens abfällig gesprochen. Auf „die Person“ soll es nicht ankommen, es zählt
allein „die Sache“. Das ist ein Verständnis von Politik, das diese als Umsetzung
von theoretischen Programmen begreift. Das US-amerikanische Verständnis von
Politik, das sich auch in Spielbergs Film ausdrückt, ist anders: Es geht nicht
um die Umsetzung von Theorien, sondern um das Annehmen aktueller und größtenteils
unvorhersehbarer Herausforderungen, denen sich vor dem Hintergrund von
Wertvorstellungen zu stellen ist. Deshalb kommt es auf den „Charakter“, auf die
Persönlichkeit von Politikern und Politikerinnen sehr wohl und vor allem an. (Ich selbst halte diese
Sichtweise nicht nur für pragmatisch, sondern schlicht für realistisch.) Stephen
Spielbergs Lincoln träumt in einer Eingangssequenz davon, als Steuermann auf
einem Schiff zu stehen, das er durch einen undurchdringlichen Nebel führen
muss.
Abraham
Lincolns Ermordung zeigt der Film nicht. Den lebenden Lincoln sehen wir zum
letzten Mal mit den Augen seines schwarzen Kammerdieners, der feststellen muss,
dass der Präsident die Handschuhe, die er ihm gerade noch in die Hand gedrückt
hat, wieder hat liegen lassen. In dieser kleinen Achtlosigkeit zeigt sich die
ganze Ambivalenz der Figur noch einmal: die Nonchalance, der Charme, die
ausgestellte Einfachheit und Bescheidenheit, die Ignoranz gegenüber der kleinen, der „privaten“, der nicht-politischen Welt. Abraham
Lincoln wäre gerne noch geblieben unter den Kollegen in seinem Kabinett, aber
er muss gehen. Der schwarze Diener ruft ihn im Auftrag von Mrs. Lincoln, der Frau.
Wie in einen Traum oder einem Erinnerungsbild wird zuletzt doch noch einmal weich von
der Leiche des Präsidenten auf den Redner Lincoln geblendet, wie er jene zweite Rede hält, die im
Lincoln Memorial neben der Gettyburg Adress steht, seine Inaugural Speech für
die zweite Amtszeit: „bind up the nation´s wounds.“
Die
Narben dieser Wunden im Fleisch der modernen Demokratie: die Sklaverei, die Vertreibung und Ermordung der indianischen Urbevölkerung, die Unterdrückung und
Entmündigung der Frauen – sie sind immer noch sichtbar, sie schmerzen
weiterhin, sie heilen mühsam, wenn überhaupt.
***
1870
erhielten männliche Schwarze formal das Wahlrecht. Aber es dauerte beinahe ein
Jahrhundert bis sie dieses Recht in allen Bundesstaaten auch faktisch in
Anspruch nehmen konnten.
Ein
weiterer Krieg war nötig, damit 1920 schließlich auch Frauen das Wahlrecht in
den Vereinigten Staaten von Amerika erhielten.
Heute
wäre Rosa Parks hundert Jahre alt geworden, die sich 1955 in Montgomery, Alamba
weigerte, für einen Weißen im Bus ihren Platz zu räumen.
***
Stephen Spielberg´s LINCOLN ist für 12 Oscars nominiert. Schwer vorstellbar, dass der Oscar für den besten männlichen Hauptdarsteller an einen anderen als Daniel Day-Lewis geht.
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