Montag, 18. Februar 2013

GEBRAUCHTE TAGE (Die Lyrik von E.A. Richter)


 Ein Beitrag von Morel


Die aktuelle Lyrikproduktion erscheint mir oft ein wenig karg und abstrakt, Texte ohne Sound. Ein wahrscheinlich ungerechtes Vorurteil, aber vielleicht darf Lyrik heute keinen Sound mehr haben, weil es sonst Lyrics wären, jedenfalls klingen die Texte von Hans Unstern, Tocotronic oder Christiane Rösinger eher nach Benn, Celan, Brecht, Enzensberger und Bachmann, wenn wir nach einem zeitgenössischen Pendant für das unterkühlte Pathos der Nachkriegsjahre suchen wollten. Damals begann der Tag nicht nur mit Schusswunden, sondern auch literarische Karrieren mit Lyrikbänden. Verteidigung der Wölfe, Anrufung des großen Bären, Sprachgitter. Im schönen Lyrikband Schreibzimmer von E.A. Richter, Jahrgang 1941, jedenfalls kommt mir nun mal wieder ein eigener österreichischer Sound stumm ins Ohr. Dafür ist das kurze, lakonische Gedicht weniger geeignet als das Langgedicht in seinen dahinfließenden Strophen. Ungefähr in der Mitte des Bandes findet sich Hier fuhr ich weg, in dem auch der Titel Schreibzimmer erklärt wird. Dieses wie die meisten anderen Gedichte Richters sind nicht schwerer verständlich als das Leben selbst, insbesondere als unser Alltagsleben. Wenn wir sie einmal lesen, verstehen wir so wenig, wie von der Unterhaltung an Nebentisch im Café. Geben wir uns ein wenig mehr Mühe, wissen wir wovon die Rede sein könnte. Aber schon im nächsten Versuch stoßen wir wieder auf die Unverständlichkeit jeder individuellen Lebensäußerung. So beginnt also ein Gedicht von Richter, in einer schön rhythmisierten und völlig selbstverständlichen Sprache: "hier fuhr ich weg, nachdem die Putzfrau gekommen war / ausnahmsweise an einem Sonntag, was mich im Vorhinein / schon mit einer gewissen Unruhe erfüllt hatte, auch Scham / ich schämte mich tatsächlich fast immer ein wenig", weshalb der bürgerliche Dichter, der sich eine Putzfrau leisten kann, Zuflucht nimmt im Schreibzimmer, einem Raum an einem anderen Ort, wo nicht geputzt wird ("Ich übersah dort den Staub auf dem Fensterbrett" und  an anderer Stelle mit Gedanken an die Putzfrau "wie sehr ich mich schämen würde, wenn sie sich hier vor meinen Augen in dieser Enge bücken müsste"). Das Schreiben also findet seinen Ort in einer Heimat für die Scham, wo er Zeitung liest, Artikel über Sex, an vergangenen Sex denkt, von den Geräuschen aus anderen Räumen gestört wird. Diese Lyrik sucht die Spuren, die der Alltag hinterlässt. Sie ist gelebtem Leben auf der Spur. Unser derzeitiger Lieblingstrainer, Armin Veh, sagt immer, wenn ein Spiel mal schiefgegangen ist, das sei jetzt aber ein "gebrauchter Tag" gewesen. Richters Gedichte handeln von gebrauchten Tagen, nicht dem strahlenden Morgen und der tiefen Nacht. Die Gebrauchsspuren, die das Leben am Körper hinterlässt, die Spuren die Kunstwerke hinterlassen (das berühmte Bild Betty von Gerhard Richter wird beschrieben, aber auch auch moderne Musikstücke, Dichter wie Auden haben ihre Cameoauftritte), auf Reisen steigt die Erinnerung an andere Reisen auf. Der Sex, von dem einige Gedichte handeln ist kein himmlischer, verführerischer, sondern ein irdischer, greifbarer ("schön dass deine Arschbacken so kompakt sind"). In all diesen Strophen verschwindet dann das Ich, das sich abstößt von seiner Herkunft in "Alles fremd", das so beginnt: "Waschküche, Waschtrog, Kupferkessel, Stall / Kuhfladen, Jauchegrube, Dachboden, Großmutter". Um dann ganz am Ende des für einen Lyrikband umfangreichen Buches zu schließen mit "heute kein Ich, das Ich gelöscht". An seine Stelle treten der Staub, die Haut, die Musik, die Erinnerung und die Sprache. In den Gebrauchspuren des Lebens die Schönheit entdecken, das können die Gedichte von E.A. Richter.

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