Der
Ton ist meistens ruppig. „Meine Schwester“, sagt er, „spinnt.“ Seine Schwester
bin ich. Seine Schwester lästert über die Anwohner des Nobelviertels, in dem er
wohnt. Seine Schwester hält BMW-Fahren für einen Charakterfehler. Seine
Schwester, sagte er früher manchmal, sei „tiefsinnig“, ein Ausdruck, den er als Synonym für „nicht
ganz bei Trost“ gebraucht. Er war einmal ein kleiner Bruder, der eine große
Schwester hatte. Das ist lange her. Sie hatte immer viel zu tun, seinetwegen und mit ihm.
Mehr als einmal wurde ihr Name über die Lautsprechanlage der Schule ausgerufen,
weil er sich bei irgendeiner Rangelei oder im Sport die Hand, den Fuß, die Lippe verletzt hatte. Im
Sanitätsraum sollte sie ihn abholen, grinsend saß er jedes Mal auf der Liege,
kein bisschen schlechtes Gewissen, keine Scham. Ihr war das peinlich. „Und was
hat dein Bruder dieses Mal angestellt?“, wurde sie in der Pause gefragt. Sie
zuckte die Achseln. „Mein Bruder eben.“
Ich
hatte mich sehr auf ihn gefreut. Es gehört in unserer Familie zu den am
häufigsten erzählten Anekdoten, wie ich aufgeregt an der Mama vorbei in die Klinik gelaufen bin, weil sie
ohne ihn die Treppe hinunter kam, um ihren kleinen Koffer ins Auto zu stellen,
das der Opa dem Papa und mir geliehen hatte, um sie und den Bruder abzuholen.
„Vergiss meinen Bruder nicht!“, soll ich geschrien und hektisch nach ihm
gesucht haben, bis die Mama mich eingeholt hatte und mir sein Bettchen zeigte,
wo er ganz gemütlich und pummelig schlief. „Natürlich nehmen wir ihn mit.“,
soll sie mich beruhigt haben; aber den Henkel der Tragetasche, so wird
erzählt, hätte ich nicht mehr losgelassen, bis er im Auto verstaut war. Ich
kann mich nicht daran erinnern.
Manchmal
bilde ich mir jedoch ein, dass ich mich an die 14 Tage erinnern kann, die die
Mama in der Klinik war mit ihm nach der Geburt. Damals war das so, dass Frauen
nicht nur für ein oder zwei Tage in die Geburtsklinik gingen, sondern ganze
zwei Wochen. Wenn sie überhaupt in eine Geburtsklinik gingen, heißt das. Viele
gebaren ihre Kinder zu Hause. Meine Eltern aber entschieden sich schon bei
meiner Geburt für die moderne Entbindungsklinik statt für die Hebamme am Ort.
Vielleicht wollten sie dieses Ereignis einfach für sich haben, fern von der
vielköpfigen Verwandtschaft, die es sich in A. nicht hätten nehmen lassen, die
Wöchnerin und das Neugeborene täglich zu besuchen, ihre Ratschläge an die
Mutter und den Vater zu bringen und die Küche mit Selbstgebackenem und
Eingemachtem voll zu stellen. Vor der Geburt meines Bruders, so habe ich es
gehört, hatte es Streit gegeben zwischen meinen Eltern und den Großeltern, die
mich für die zwei Wochen zu sich nehmen wollten. Aber der Papa bestand darauf,
mich jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, bei denen abzuholen und mit mir Abendbrot
zu essen. Den Großeltern erschien das unsinnig. Sie wollten, dass ich bei ihnen
blieb und schlief. Der Papa könnte mich ja besuchen. Er setzte sich durch. Und
ich, so glaube ich, habe die Abende mit dem dem Papa allein am
Abendbrottisch in Erinnerung behalten, stolz auf dem Platz von der Mama sitzend
und mich als „kleine Frau“ fühlend. Ich war drei Jahre alt. Deshalb ist es
vielleicht trotzdem nur eine Einbildung.
Von
einer Eifersucht auf den kleinen Bruder hat meine Mutter nie berichtet. Er war
ruhig und mollig; ganz friedlich, sagt meine Mutter, als Säugling. „Trank viel
und schlief viel. Ganz anders als du.“, lacht sie. Ich fand ihn sehr hübsch mit
seinen dicken, roten Bäckchen und seinen braunen Kulleraugen, glaube ich, und
schob gern den Kinderwagen durch den Brühl, um vor den anderen Kindern mit ihm
anzugeben. Doch kann ich diesen Erinnerungen nicht trauen. Viele stützen sich
auf Fotografien aus jener Zeit, die ich viele Male beim Blättern in den Alben
angeschaut habe. Wer weiß, ob mein Gehirn nicht aus diesen Fotos kleine Filme
entwickelt hat, ohne sich auf echte Erinnerungen stützen zu können?
Eine
Erinnerung aber wirkt so lebendig auf mich, dass ich sie für echt halte. Auch
gibt es von diesem Tag, den ich so deutlich vor mir sehe, keine Fotos. Mein
kleiner Bruder sitzt im Sportwagen und wir laufen vom Optiker in der Kreisstadt zum
Bahnhof zurück. Er trägt seine erste Brille und er guckt. Er guckt sich um mit
riesigen, aufgerissenen Augen. Das alles hat er noch nie gesehen. Er sieht
schlau und ein bisschen ulkig aus mit der dicken Brille. Ein Auge ist abgeklebt.
Sein Mund steht offen, so arg staunt er und dann lacht er und klatscht in die
Hände. Dass er alles so deutlich sehen kann, freut ihn und mich auch und es ist
ein ganz toller Tag. Ich glaube, dass wir auch noch beide ein Eis gekriegt
haben auf dem Weg zum Bahnhof.
Mein
Bruder und ich sind drei Jahre auseinander und hatten keine gemeinsamen
Freunde. Wir haben trotzdem viel zusammen gespielt, vor allen am Samstag- und
Sonntagmorgen.* Wir haben uns ein Zimmer geteilt, bis ich zwölf war. Wir waren
immer sehr verschieden. Ich bin trotzig, aufmüpfig und vergesslich. Mein Bruder
ist diplomatisch, gelassen und ein wenig sentimental. (Wahrscheinlich erkennt
er sich in diesen Zuschreibungen nicht wieder.) Ich habe oft mit dem Fuß
aufgestampft. Mein Bruder hat verhandelt. Wir haben uns auch viel gestritten
und gekämpft.
Ich
hatte einen kleinen Bruder. Das ist lange her. Als wir klein waren, fühlte ich
mich immer überlegen. Er war ein wenig trollig und eigenartig, schien mir, auch
ein bisschen nervig und laut. Ich musste auf ihn aufpassen, wenn ich was
Besseres zu tun hatte. Manchmal hätte ich ihn gern irgendwo vergessen oder so
getan, als kenne ich ihn nicht: Wenn er laut mit seinen Kumpels als Cowboy
durch die Gegend trampelte und mit Zündplättchenpistolen um sich schoss, wenn
er einen auf Geschäftsmann machte und großspurig als Zehnjähriger im Viertel
unter den Kindern Aktien für ein von ihm zu gründendes Unternehmen vertrieb
oder wenn er mit siebzehn im Gasthaus zur Linde besoffen rumkrakelte. Mein
Bruder kann gut mit allen Leuten, während ich oft unfreundlich oder abwesend
bin. Als Kind, sagt meine Mutter, hat es mein Bruder mit mir nicht leicht
gehabt. Denn ich war Klassenbeste, führte das große Wort, las Bücher in einem
Nachmittag aus und konnte übers Wehr balancieren. Mein Bruder, sagt meine
Mutter, habe mir immer nachgeeifert. Daran kann ich mich beim besten Willen
nicht erinnern.
Mein
Bruder ist kein kleiner Bruder mehr. Mein Bruder wird heute 45 Jahre alt. Er sieht
in seiner schwarzen Richterrobe nicht mal verkleidet aus. Er spricht fließend
Spanisch und Englisch. Er kocht auf höchstem Niveau in einem Team, das Preise
gewinnt. Mein kleiner Bruder ist ganz schön groß geworden. Er ist Vater zweier
Söhne (keine Enkeltöchter für unsere Eltern). Er ging mir oft auch die Nerven,
als wir Kinder waren und hat auch heute noch ein Talent dafür.
Einmal,
erinnere ich mich, da muss ich ungefähr acht gewesen sein, ging ich am Bach
entlang von meiner besten Freundin nach Hause. Ich trödelte ein bisschen, wie
ich es immer gern tat, balancierte über einen Baumstamm, ließ ein Stöckchen
unter der Brücke durchschwimmen und hüpfte über die breiteste Stelle des Bachs
von einem Ufer zum andern. Meine Freundin hatte einen wunderbaren Kaufladen aus
Holz mit Theke und Registrierkasse, mit dem wir den ganzen Nachmittag gespielt
hatten. Der Kaufladen war so groß, dass er niemals in das kleine Zimmer gepasst
hätte, das ich mit meinem Bruder teilte. Meine Freundin war ein Einzelkind und
sie hatte sogar zwei Zimmer: eines zum Spielen und eines zum Schlafen. Ich
beneidete sie darum: um die beiden großen Zimmer ganz für sich allein, aber am
allermeisten um den großen, bunten Kaufladen. Als ich jedoch über den Bach
hüpfte an diesem Abend vor jetzt 40 Jahren war ich mir sicher, dass ich es doch
besser getroffen hatte: „Aber ich“, dachte ich, „habe einen Bruder.“
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*Über
diese gemeinsamen Phantasiereisen habe ich hier: geschrieben. Der zweite Teil von Augen-Blicke ("Die Zähmung des Auges") ist
meinem Bruder gewidmet.
Da mein kleiner Bruder morgen hier kurz vorbeischaut, von weit her, und dann wieder weg sein wird, weit und für lange, lese ich das hier mit Wehmut.
AntwortenLöschenViel Spaß und liebe Grüße
NO
Ich wünsche Ihnen auch viel Vergnügen beim Zusammensein mit Ihrem "kleinen Bruder" (der zweifellos so klein auch nicht mehr ist ;-) ). Den meinen sehe ich auch nicht so häufig, obwohl er nicht allzu weit entfernt wohnt. Am häufigsten treffen wir uns bei Heimspielen von Eintracht Frankfurt.
LöschenHerzliche Grüße
M.
PS. Der guten Ordnung halber: Dieser Text ist unter "Auto.Logik.Lüge.Libido" eingeordnet, nicht unter "Tagebuch". Das bedeutet, dass er zwar autobiographisch ist, sich im Hinblick auf die "Fakten" jedoch Freiheiten herausgenommen werden.
Mit Freude und Interesse habe ich wieder bei Ihnen gelesen und bin heute dem Blick der "großen" Schwester gefolgt. Auch weil ich die "Kleinere" bin.
AntwortenLöschenHerzliche Grüße,
Karin
Danke!
LöschenEs spielt, habe ich einmal gelesen, eine große Rolle für Lebensgestaltung und Partnerwahl, welche "Position" in der Geschwisterreihe eine/r hat.
Herzliche Grüße
M.