Mittwoch, 6. März 2013

DER BEOBACHTER ("Ich habe nichts zu verbergen.") Entwurf


Das nachfolgende Dokument ist der Akte der M. beigefügt, jedoch mit einem Reiter versehen, der darüber informiert, dass die Zuordnung unsicher ist.

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Werter H.,

Sie erinnern sich, davon gehe ich aus, daran, worum Sie mich gestern so dringlich, um nicht zu sagen so aufdringlich baten? Ich frage, weil Sie sich, mein lieber H., als Sie sich in jener Gaststätte an meinen Tisch setzten, ganz offenbar nicht mehr in nüchternen Zustand befanden, doch spricht vieles dafür, dass Sie die Bitte, die Sie an mich zu richten gedachten, lange vorher schon in ihren Gedanken formuliert hatten, sich beinahe schon dazu entschieden hatten, mich damit zu konfrontieren, dann jedoch davor zurückgeschreckt waren, Mal um Mal, um zuletzt sich Mut anzutrinken.

Noch im Setzen legten Sie ein Bündel großer Scheine auf den Tisch, aufgefächert wie Rommé – Karten und dann sprachen Sie Ihre Bitte aus, stotternd zwar, in mehreren Anläufen, dennoch konnte es kein Missverständnis geben, was Sie von mir wollten. Es war nicht, was ich erwartet hatte, als ich das Geld sah, das Sie über den Tisch auf mich zu schoben und schließlich mit einem letzten energischen Stoß in meinen Schoß warfen. Sie wollten, sagten Sie, dass ich aufschriebe, nur für Sie allein, keineswegs zur Veröffentlichung gedacht, was an den Abenden in jenem Haus geschehe. Es gehe Ihnen um meine Perspektive, versicherten sie mir, sie wollten es mit meinen Augen sehen und mit meinen Händen fühlen. (Sie sagten „Hände“, aber ich wusste, an was sie dachten.) Sie legten viel Wert darauf, mir mehrfach zu versichern, wie diskret Sie meine Aufzeichnungen behandeln würden. In jenem Haus... Wie Sie das betonten.

Ich konnte nicht im Zweifel darüber sein, welches Haus sie meinten. Das Haus, in das sie mich seit einigen Wochen jeden Abend gehen sahen. Ja, mein guter H., es ist mir nicht verborgen geblieben, wie ihre Blicke mir folgten. Selbstverständlich weiß ich auch, welche Gerüchte über jenes Haus in unserer kleinen Ortschaft im Umlauf sind, obwohl man sich mir gegenüber immer nur sehr verhalten äußert. Sie wiederholten Ihr Anliegen mehrfach, obwohl ich Ihnen sogleich zu verstehen gab, dass ich einverstanden sei. Sie wissen wohl, wie gut ich das Geld in meiner Lage brauchen kann.

Ich sehe kein Problem darin, Ihrer Bitte nachzukommen. Da ich das Geld behielt, wäre jede andere Entscheidung auch Betrug, nicht wahr? Das Schreiben fällt mir nicht schwer und warum sollte ich Ihnen nicht erzählen, wie ich meine Abende und Nächte verbringe, wenn Sie es so sehr begehren, in meine Gedanken und Gefühle einzudringen? Ich habe nichts zu verbergen. Ich fürchte nur...

Lieber H., es wird, was nun folgt, die Wahrheit sein, nichts als die Wahrheit, wie man so vor Gericht sagt, womit ich mich auskenne, wie Ihnen sicherlich (Was kann in so einem Dorf auf Dauer geheim bleiben?) auch bekannt ist. Doch werden Sie mir glauben? Werden Sie sich nicht betrogen fühlen, weil Ihre Einbildung sich entzündete an jenen Gerüchten, die die ehrbaren Bürger der Stadt über jenes Haus in die Welt setzten? Sie werden enttäuscht sein, werter H., doch kann ich es nicht ändern.

 Lassen Sie mich nun beginnen.

Ich gehe fast nie vor dem Abendessen in jenes Haus. Als ich mich gestern im Dämmerlicht dort absetzen ließ, sah ich, wie Sie sich gegenüber hinter der Gardine versteckten. Haben Sie angenommen, ich hätte Sie nicht bemerkt? Seit Monaten sehe ich Sie dort stehen und nach mir Ausschau halten und schon manches Mal war ich versucht, Ihnen einfach zu winken. Die Tür wurde geöffnet, man wartete schon auf mich. Ich ließ mir von meiner Schwester, der Besitzerin des Hauses (wussten Sie das auch?) aus dem Mantel helfen, darunter, Sie ahnten das wohl, trug ich nichts. Sie werden beobachtet haben von Ihrem Gardinenplatz aus, mein Lieber, dass jeden Abend vor diesem Haus noch andere junge Männer und Frauen abgesetzt werden, in üppige Mäntel gehüllt, unter denen (besonders bei den Männern wird Ihnen das sofort aufgefallen sein) sie nichts tragen. 

Was wollen Sie von mir? Dass ich Ihnen beschreibe, wie wir uns Abend für Abend übereinander wälzen, stöhnen und keuchen, uns benetzen und auslaufen? Wollen Sie, dass ich Ihnen meine Brüste beschreibe, wie sich erregt verhärten oder die Geschlechtsteile der Männer, wie sie sich uns entgegenrecken, unseren Händen, unseren Körperöffnungen? Beinahe muss ich das annehmen. Doch ich werde für Sie Wahrheit aufschreiben und nicht das, was Sie lesen wollen.

Meine Schwester, die Gastgeberin, hilft mir aus dem Mantel. Liebevoll streicht sie mir das Haar aus der Stirn. „Komm“, ruft sie und ergreift meine Hand. „Sieh, was ich diesmal vorbereitet habe.“ Die Fenster dieses Hauses sind, woran sich nicht wenig Klatsch entzündet hat, stets sorgsam verhüllt, die Läden zugeklappt, die Vorhänge zugezogen. Meine Schwester duldet es nicht, dass eine Lichterkakophonie ihre sorgfältigen Arrangements zerstört. Gabriel, mein Partner bei unseren Inszenierungen, erwartet mich meist schon im Flur. Immer wieder bin ich überrascht von den edlen Stoffe, den satten Farben, dem reichverzierten Mobiliar, von der Süße der Trauben, der Säure der Äpfel, dem üppigen Saft des Bratenfleisches und des knusprige Kruste des Brotes, von den Düften der Blüten und Öle, dem Zwitschern der Vögel aus den Volieren und den schimmernden Häuten der Schlangen in den Gehegen,  die meine Schwester jeden Abend in anderer Weise zu einem neuen Bilde formt. Gestern betraten Gabriel und ich den großen Saal Hand in Hand und mussten beide Atem holen vor Überraschung und Entzücken, als wir sahen, was meine Schwester diesmal geschaffen hatte. Wir verwandelten uns auf der Stelle...

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Notiz: Der Brief bricht an dieser Stelle abrupt ab. Die nächste Seite fehlt. Es handelt sich um eines der wenigen handschriftlichen Dokumente, die aus dem inneren Kreis der Unmenschen sichergestellt werden konnten. Es wird angenommen, dass die M. das Schreiben verfasst hat. Jedoch kann ein Abgleich mit einer zweifelsfrei bestätigten Probe der M. gegenwärtig aus den bekannten Gründen nicht stattfinden. (Vermerk: Aus Sicherheitsgründen soll dieses Dokument zunächst nicht als Kopie Eingang in die Krankenakte der Klinik finden. Spätere Entscheidungen von oberster Stelle vorbehalten.)

(Fortsetzung zu der Serie: Fabelwesen)

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