Das nachfolgende Dokument
ist der Akte der M. beigefügt, jedoch mit einem Reiter versehen, der darüber
informiert, dass die Zuordnung unsicher ist.
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Werter H.,
Sie
erinnern sich, davon gehe ich aus, daran, worum Sie mich gestern so dringlich,
um nicht zu sagen so aufdringlich baten? Ich frage, weil Sie sich, mein lieber
H., als Sie sich in jener Gaststätte an meinen Tisch setzten, ganz offenbar
nicht mehr in nüchternen Zustand befanden, doch spricht vieles dafür, dass Sie
die Bitte, die Sie an mich zu richten gedachten, lange vorher schon in ihren
Gedanken formuliert hatten, sich beinahe schon dazu entschieden hatten, mich damit zu
konfrontieren, dann jedoch davor zurückgeschreckt waren, Mal um Mal, um zuletzt
sich Mut anzutrinken.
Noch im
Setzen legten Sie ein Bündel großer Scheine auf den Tisch, aufgefächert wie
Rommé – Karten und dann sprachen Sie Ihre Bitte aus, stotternd zwar, in
mehreren Anläufen, dennoch konnte es kein Missverständnis geben, was Sie von
mir wollten. Es war nicht, was ich erwartet hatte, als ich das Geld sah, das
Sie über den Tisch auf mich zu schoben und schließlich mit einem letzten
energischen Stoß in meinen Schoß warfen. Sie wollten, sagten Sie, dass ich
aufschriebe, nur für Sie allein, keineswegs zur Veröffentlichung gedacht, was
an den Abenden in jenem Haus geschehe. Es gehe Ihnen um meine Perspektive,
versicherten sie mir, sie wollten es mit meinen Augen sehen und mit meinen
Händen fühlen. (Sie sagten „Hände“, aber ich wusste, an was sie dachten.) Sie
legten viel Wert darauf, mir mehrfach zu versichern, wie diskret Sie meine
Aufzeichnungen behandeln würden. In jenem Haus... Wie Sie das betonten.
Ich konnte
nicht im Zweifel darüber sein, welches Haus sie meinten. Das Haus, in das sie
mich seit einigen Wochen jeden Abend gehen sahen. Ja, mein guter H., es ist mir
nicht verborgen geblieben, wie ihre Blicke mir folgten. Selbstverständlich weiß
ich auch, welche Gerüchte über jenes Haus in unserer kleinen Ortschaft im
Umlauf sind, obwohl man sich mir gegenüber immer nur sehr verhalten äußert. Sie
wiederholten Ihr Anliegen mehrfach, obwohl ich Ihnen sogleich zu verstehen gab,
dass ich einverstanden sei. Sie wissen wohl, wie gut ich das Geld in meiner
Lage brauchen kann.
Ich sehe
kein Problem darin, Ihrer Bitte nachzukommen. Da ich das Geld behielt, wäre
jede andere Entscheidung auch Betrug, nicht wahr? Das Schreiben fällt mir nicht schwer und warum sollte ich Ihnen nicht erzählen, wie ich meine
Abende und Nächte verbringe, wenn Sie es so sehr begehren, in meine Gedanken
und Gefühle einzudringen? Ich habe nichts zu verbergen. Ich fürchte nur...
Lieber H.,
es wird, was nun folgt, die Wahrheit sein, nichts als die Wahrheit, wie man so
vor Gericht sagt, womit ich mich auskenne, wie Ihnen sicherlich (Was kann in so
einem Dorf auf Dauer geheim bleiben?) auch bekannt ist. Doch werden Sie mir
glauben? Werden Sie sich nicht betrogen fühlen, weil Ihre Einbildung sich entzündete
an jenen Gerüchten, die die ehrbaren Bürger der Stadt über jenes Haus in die
Welt setzten? Sie werden
enttäuscht sein, werter H., doch kann ich es nicht ändern.
Lassen Sie mich nun beginnen.
Ich gehe
fast nie vor dem Abendessen in jenes Haus. Als ich mich gestern im Dämmerlicht
dort absetzen ließ, sah ich, wie Sie sich gegenüber hinter der Gardine
versteckten. Haben Sie angenommen, ich hätte Sie nicht bemerkt? Seit Monaten
sehe ich Sie dort stehen und nach mir Ausschau halten und schon manches Mal war
ich versucht, Ihnen einfach zu winken. Die Tür wurde geöffnet, man wartete
schon auf mich. Ich ließ mir von meiner Schwester, der Besitzerin des Hauses
(wussten Sie das auch?) aus dem Mantel helfen, darunter, Sie ahnten das wohl,
trug ich nichts. Sie werden beobachtet haben von Ihrem Gardinenplatz aus, mein
Lieber, dass jeden Abend vor diesem Haus noch andere junge Männer und Frauen
abgesetzt werden, in üppige Mäntel gehüllt, unter denen (besonders bei den
Männern wird Ihnen das sofort aufgefallen sein) sie nichts tragen.
Was wollen
Sie von mir? Dass ich Ihnen beschreibe, wie wir uns Abend für Abend
übereinander wälzen, stöhnen und keuchen, uns benetzen und auslaufen? Wollen
Sie, dass ich Ihnen meine Brüste beschreibe, wie sich erregt verhärten oder die
Geschlechtsteile der Männer, wie sie sich uns entgegenrecken, unseren Händen,
unseren Körperöffnungen? Beinahe muss ich das annehmen. Doch ich werde für Sie
Wahrheit aufschreiben und nicht das, was Sie lesen wollen.
Meine
Schwester, die Gastgeberin, hilft mir aus dem Mantel. Liebevoll streicht sie
mir das Haar aus der Stirn. „Komm“, ruft sie und ergreift meine Hand. „Sieh,
was ich diesmal vorbereitet habe.“ Die Fenster dieses Hauses sind, woran sich
nicht wenig Klatsch entzündet hat, stets sorgsam verhüllt, die Läden
zugeklappt, die Vorhänge zugezogen. Meine Schwester duldet es nicht, dass eine
Lichterkakophonie ihre sorgfältigen Arrangements zerstört. Gabriel, mein
Partner bei unseren Inszenierungen, erwartet mich meist schon im Flur. Immer
wieder bin ich überrascht von den edlen Stoffe, den satten Farben, dem
reichverzierten Mobiliar, von der Süße der Trauben, der Säure der Äpfel, dem
üppigen Saft des Bratenfleisches und des knusprige Kruste des Brotes, von den
Düften der Blüten und Öle, dem Zwitschern der Vögel aus den Volieren und den
schimmernden Häuten der Schlangen in den Gehegen, die meine Schwester jeden Abend in anderer Weise zu einem
neuen Bilde formt. Gestern betraten Gabriel und ich den großen Saal Hand in
Hand und mussten beide Atem holen vor Überraschung und Entzücken, als wir
sahen, was meine Schwester diesmal geschaffen hatte. Wir verwandelten uns auf
der Stelle...
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Notiz: Der Brief bricht an dieser
Stelle abrupt ab. Die nächste Seite fehlt. Es handelt sich um eines der wenigen
handschriftlichen Dokumente, die aus dem inneren Kreis der Unmenschen sichergestellt
werden konnten. Es wird angenommen, dass die M. das Schreiben verfasst hat.
Jedoch kann ein Abgleich mit einer zweifelsfrei bestätigten Probe der M.
gegenwärtig aus den bekannten Gründen nicht stattfinden. (Vermerk: Aus
Sicherheitsgründen soll dieses Dokument zunächst nicht als Kopie Eingang in die
Krankenakte der Klinik finden. Spätere Entscheidungen von oberster Stelle
vorbehalten.)
(Fortsetzung zu der Serie: Fabelwesen)
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