Donnerstag, 18. April 2013

ALLES LÜGE (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)


„Achtung. Er ist hinter uns. Dreh dich nicht um.“
Schnuppe schreckte aus seinen Tagträumen auf. Er raffte es nicht gleich.
„Wer?“
„Alex. Der Typ. Von dem ich dir erzählt habe.“
„Der Erklärbär? Der Austens Romane nicht gelesen hat?“
Es war sonderbar, dachte Schnuppe, was sich ihm eingeprägt hatte aus den weitschweifigen Erzählungen Sternchens über diesen Alex. Dass der Jane Austens Romane nicht gelesen hatte, war für Schnuppe entscheidend gewesen. Es beruhigte ihn ungemein. Ein Mann, der nicht sagen konnte: ´In vain have I struggled. It will not do. My feelings will not be repressed. You must allow me to tell you how ardently I admire and love you.´, würde bei Sternchen niemals landen können. Das hätte er, der liebende Bruder, dem gleich sagen können. Da konnte der soviel guten Wein oder gediegenen Witz auffahren, wie er wollte. Sternchen hatte ihre Standards und die zu unterbieten, hätte der nur wagen können, wäre er Atomphysiker gewesen. War er aber nicht, sondern ging Tag ein, Tag aus in ein austauschbares Bürogebäude in Niederrad, um Kreditkarten zu verkaufen. Oder so was ähnliches, Schnuppe musste zugeben, dass er Sternchen an dieser Stelle nicht genau genug zugehört hatte. Irgendwas mit Marketing machte der, einen, wie Sternchen ihn nachäffte „Nine-to-five-Job“, ein Ausdruck, den Schnuppe noch nie gehört hatte und der ihm den, von allem anderen, von dem er sowieso nicht und niemals hätte absehen können, noch mal besonders und ganz speziell unsympathisch machte. 

Schnuppe hatte, bevor Sternchen ihn mit „Achtung“ unterbrach, vor seinem inneren Auge die Farben der Scheinwerfer ausprobiert, in deren Lichtkegel er die Tänzer zu hüllen gedachte. Er hatte sich vorgenommen, den Kritikern eins in die Fresse zu geben, indem er die „Minna“, die als nächstes auf dem Spielplan stand („Wir müssen immer auch zweidrei Stücke aus dem Repertoire machen.“) und die er ohnehin am meisten von Lessings Dramen liebte, als Nummernrevue aufzuführen. "In your face!“, dachte er und vor seinen Augen flimmerte es pink und türkis und gelb.

Sternchen sagt: „Vielleicht sollten wir aufsteigen und ihm einfach davon fahren.“ Schnuppe hob den Kopf und schob die Sonnenbrille über die Stirn, während er mit der anderen Hand sein Fahrrad in der Balance hielt. Sternchen und er hatten sich am ersten warmen Frühlingssonntag im Park getroffen und schoben nun ihre Räder die überfüllten Gehwege entlang, weil toutes Frankfurt es ihnen gleichtat und entweder hier im Grüneburgpark oder am Mainufer die Sonne genoss.

„Das Recht, im Park zu flanieren, kannst du ihm nicht absprechen.“
„Nee“, sagte Sternchen, „aber er ist mir gefolgt. Er lungert schon den ganzen Morgen in dem Café rum, das meiner Wohnung gegenüber aufgemacht hat.“
„Warum hast du nix gesagt? Ich hätte den...“
Schnuppe wollte herumfahren, um sich diesen Einfaltspinsel mal zu greifen, aber Sternchen hielt ihn am Ärmel fest.
„Gestern Nacht hat er mich wieder angenervt.“
„Du telefonierst noch mit dem?“
„Quatsch, der spricht auf den Anrufbeantworter. Oder schickt Mails. Bei Facebook hab´ ich ihn geblockt.“
„Und was sagt er?“
„Dass ich unterbelichtet bin. Was ihm leider gleich aufgefallen sei. Ein hübsches Püppchen, dem die intellektuelle Reife fehle. Was es, das Püppchen, zu vertuschen versucht, durch aufgeblasenes Gerede. Sagt er.“
Schnuppe staunte nicht schlecht.
„Das ist gut. Hast du dem die Intellektuelle vorgespielt? Echt? Du, die Körperkneterin.“

Sternchen zog eine Schnute. Aber nur zum Spaß. Das Thema hatten sie durch. Oder gar nicht erst angefangen damit. Sie hatte nie studieren wollen. An der Uni rumhängen und über Sachen reden, das war nix für sie. Sternchen musste was machen, sich bewegen, andere bewegen. Spüren, wie sie wirkte. Sie hätte in eine Schreinerlehre gehen können. Aber dann war es was anderes geworden. Und genau richtig für sie. Als Tänzer und Regisseur wusste Schnuppe die Körperbeherrschung, die sie erlernt hatte, zu würdigen, denn er erkannte nicht nur die Arbeit, sondern auch die Überwindung, die darin steckte. Als Bruder ahnte er, wie weit Sternchen über sich hinaus gewachsen war, um zu dieser Ruhe zu finden, die sie in ihren Asanas ausstrahlte. Und als Kranker hatte er von ihren therapeutischen Künsten schon mehr als einmal profitiert.

Schnuppe blieb stehen. Gerade wurde zu ihrer Linken eine Bank frei, weil zwei ältere Damen sich erhoben, um Handtaschen schwenkend in Richtung Park-Café zu trippeln. 
Wollen wir uns setzen?“
Sternchen kicherte.
„Damit du ihn dir angucken kannst?“

Schnuppe nickte und ließ sich auf die Bank fallen. Betont beiläufig schaute er sich um. Welcher könnte dieser Alex sein? Er fasste einen jungen Kerl in Shorts und Shirt ins Auge, der auf seinem Smartphone herumspielte. Zu jung, zu lange Haare, zu grelles Stirnband, dachte er. Nicht dass Sternchen da nicht drauf gestanden hätte. Der Altersabstand wäre o.k. gewesen. Auch Sternchen war noch nicht mal dreißig, dachte Schnuppe. Das sollte er nicht vergessen. Aber die ganze Erscheinung passte nicht zu den Erzählungen über diesen Alex, mit denen Sternchen ihm auf die Nerven gegangen war. Außer dass der Typ mit dem Stirnband zweifellos ebenfalls nicht Austen gelesen hatte. Oder? Schnuppe fixierte ihn. Ein Hauch von Bartstoppeln. Bequeme Sandalen. Schon voll auf Sommer umgestellt. Etwas Melancholie um die schmalen Lippen und den Ansatz einer Stirnfalte zwischen den Brauen. Vielleicht doch. Ein Grübler?

Sternchen beobachtete ihren Bruder amüsiert.
„Du fragst dich, wer es ist?“
Schnuppes Blick fiel auf einen Mann, der ihnen den Rücken zuwandte. Dunkler Anzug, glänzende schwarze Schuhe, dichtes blondes Haar, gut geschnitten Er wippte nervös auf und ab.
„Der?“
Schnuppe machte eine Bewegung mit dem Kinn. Sternchen kicherte. Der Typ hob die Hand und winkte einer Brünetten zu, die über die Rasenfläche auf ihn zu kam. Küsschen links, Küsschen rechts. Der also nicht.

Es blieb nur einer übrig und es hätte Schnuppe gleich klar sein müssen, dass der es war, der Einzige, der sich versteckte, hinter einem Gebüsch herumlungerte und einfach albern deplatziert wirkte in seiner für den warmen Tag viel zu schweren, abgewetzten Lederjacke, die nicht cool wirken konnte in Kombination mit den spießigen Halbschuhen, die er dazu trug und dem leichten Bauchansatz, der sich über seinem Gürtel abzeichnete. Am schlimmsten war freilich die Pilotenbrille, die das fliehende, kleine Kinn durch ihre Größe noch betonte.

„Was für ein Kümmerling“, sagte Schnuppe.
Dann rief er sich innerlich zur Ordnung. Er wusste, dass er nicht fair urteilen konnte. Er sah auch gar nicht genug von dem Typen im Gestrüpp, um ihn wirklich einschätzen zu können. Doch als Tänzer fielen ihm die herabfallenden Schultern und die schlechte Haltung auf. Dieser Mann hatte wenig Körper- und Selbstbewusstsein. Das passte aber gar nicht zu dem, was Sternchen erzählt hatte.

„Er teilt mir ständig mit, wie armselig ich bin. Meine Arbeit – Scharlatanerie, um die erbärmliche Erträglichkeitskultur aufrecht zu erhalten, durch die sich die durchrationalisierten Idioten ihre eigene Unerträglichkeit sedieren.“
„Zitierst du?“
Sternchen lachte.
„Heb´  das auf. Die Mails, meine ich. Das kann ich vielleicht noch mal verwenden.“
Sternchen schüttelte den Kopf.
„Er macht mir auch Angst. Diese Besessenheit. Er ist mindestens zehnmal täglich auf meiner Seite. Oft mehr.“
„Deinem Blog?“
Sternchen nickte.
„Ich seh´s an den Servern. Seine Firma hat einen eigenen. Daran erkenn ich den auf meinem Zähler. Das kann nur der sein; die Zugriffe von dort.“
„Willst du ihn anzeigen?“
„Das ist ja nicht verboten. Und die Mails. Das ist auch nicht so krass. Er beleidigt mich, aber nicht mit einschlägigen Schimpfworten. Das Übliche Männer-Getue halt: Verniedlichung und Pathologisierung. Es ist mehr die Häufigkeit und die Dauer, die mich beunruhigen.“
„Soll ich...?“
„Vielleicht. Aber nicht jetzt. Nicht heute. Nicht an so einem schönen Tag.“

Schnuppe legte seinen Arm über die Rücklehne der Bank. Sternchen kuschelte ihren Kopf an seine Schulter.Der Beobachter verzog sich aus dem Gebüsch. Schnuppe sah, wie er um eine Biegung verschwand. Er atmete durch. Er sollte den im Auge behalten. Er war schließlich der große Bruder. Aber er wusste auch, dass er aufpassen musste. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten und platzte mit der Frage raus, die ihn umtrieb:

„Was fandest du denn an dem? Wieso triffst du so einen Deppen? Und der sieht nicht mal gut aus.“

Sternchen hätte ihm antworten können. Er wusste es doch genauso gut wie sie. Warum sie sich mit Männern traf, immer wieder. Warum sie manchmal sogar mit denen ins Bett ging. (Nicht mit Alex.) Warum sie nie mit einem zusammen blieb. Schnuppe wusste es, so wie sie es wusste. Aber daran rührten sie nicht.
„Ich gefiel ihm. Sehr. Du weißt, wie anziehend ich das finde. Wenn einer mir den Hof macht.“
Schnuppe knuffte sie in die Schulter.
„Was für´n altmodischer Ausdruck.“
Diese Klippe war umschifft. Schnuppe hätte das gar nicht fragen dürfen. Warum zog nie einer seiner Liebhaber bei ihm ein? Warum legte er sich auf One-Night-Stands fest?

Sie konnten nicht ohne einander, Sternchen und Schnuppe. Sie hatten es aber auch nie versucht. Sie waren auch niemals zusammen in eine Wohnung gezogen, seit sie die elterliche verlassen hatten. Aber immer zusammen umgezogen in die nächste Stadt: von Marburg nach Köln, von Köln nach Dublin, von Dublin nach Frankfurt. Aber keine gemeinsame Wohnung. Immer ein Anruf, bevor sie hochkam, weil sie ihn nicht mit einem unter der Dusche antreffen wollte. Immer sein Signalläuten, bevor er aufschloss, weil er sie nicht mit einem auf dem Sofa beim Knutschen überraschen wollte. 

Mit Sternchen, behauptete er, wenn er von seiner Schwester erzählte, kann ich über alles reden.

Nur Schnuppe und Sternchen selbst wussten, wie sehr das gelogen war.

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