Dienstag, 23. April 2013

Literatur, Relevanz und Dreckarbeit

"Literatur, in der keine Dreckarbeit vorkommt, ist doch irgendwie irrelevant, oder?"



Das "oder" mit dem Fragezeichen am Ende kann eine sich schwyzerisch gesprochen vorstellen, denke ich mir, mit lang gerolltem "r" und so dass sich die Stimme grad noch ein bisschen mehr hebt, als es im Deutschen der Fall wäre.

Welche Literatur ist relevant? Indem Ina Praetorius das kleine "oder" mit dem Fragezeichen hinten anhängt, stellt sie nicht nur ihre eigene, sondern jede Relevanzbehauptung in Frage. Denn was Relevanz zugesprochen bekommt (und also im "Kanon" landet) hat häufig wenig mit sogenannter "literarischer Qualität" zu tun, sondern mindestens ebenso oft damit, wer mit welchem Referenzrahmen in einer Position ist, um Relevanzentscheidungen zu treffen und - auf Zeit -durchzusetzen. Nur Ignoranten mit geringem Selbstbewusstsein (in jenem umfassenderen Sinne, den das englische "self-consciousness" hat, das eben auch die Scham über die eigene Beschränkung umfasst) bilden sich ein, ihre Entscheidungen seien objektiv und hätte mit ihrer Position nichts zu tun. 

Es gibt so etwas wie "Qualität", zweifellos: mehr oder minder viel Komplexität und sprachliche Innovation zum Beispiel. Doch die Kriterien für "Qualität" ändern sich: Regelkonformität, die einst ausschlaggebend war, ist längst eher ein Symptom für Minderleistung; manchen ist oder war es die gesellschaftliche Bedeutsamkeit des literarischen Werkes im Kontext eines von ihnen definierten Fortschritts und andere erwarten gar durch literarische Werke Erkenntnisse über die Welt und die Verhältnisse der Menschen in ihr, die jeder empirischen Untersuchungen überlegen sind, wenn die Lektüre nur durch hinreichend tiefgängige oder hochfliegende philosophische Spekulation geadelt wird. Dann gibt es jene, denen allein an einer ästhetischen Geschlossenheit des (autonomen oder auch nicht? ) literarischen Werkes gelegen ist, das sich selber setzt (und also Literatur über Literatur produziert, Selbstreferentialität, Intertextualität und weiter so Stichworte könnten fallen). Wieder andere wollen sich weiterhin durch Literatur bloß ganz altmodisch gut unterhalten und belehren lassen, indem sie lesend mehr Erfahrungen zu machen in den Stand versetzt werden, als ein endliches Leben sie ansonsten ermöglichte.

Die Literatur hat keinen Zweck, aber sie kann viele erfüllen. Ein Tor bloß, wer seine eigenen Bedürfnisse beim Lesen zu allgemeinen erhebt.

Irrelevant für mich ist derzeit (und, wer weiß, vielleicht noch lange oder bald schon nicht mehr) fast alle Literatur, in der eine schöne junge Frau zum Schluss eine (immer noch schöne?) weibliche Leiche abgibt. Damit will ich nicht rückwirkend alle literarischen Texte, die sich "Nur über ihre Leiche" schrieben, abwerten (Es wären ja auch gar zu viele.) Ich empfinde nur einen Überdruss an der Figur und ihren Variationen, der sich beinahe zum Ekel gegenüber diesem Produktionsmodus männlichen Literaturschaffens ausgewachsen hat. 

"Die Kunst ersinnt mit Vorliebe den Tod der schönen Frau. Damit bannt sie nicht nur beim Mann die Angst vor dem Tod - denn die weibliche Leiche ist nicht die eigene - , sondern ermöglicht es dem Künstler, der die sterbende Frau zum Objekt macht, sich über ihre Leiche selbst zu produzieren."
Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche


***

Relevant für mich ist zur Zeit Literatur, die sich verausgabt, statt sich zurückzuhalten, die mit barocker Fülle spielt, die krypto-phantastisch die Masken umdreht und die Realität zur Illusion verwandelt, in der die Ironie allenfalls zart ist, aber niemals in Sarkasmus umschlägt, die nicht das Kind mit dem Bade und die Gesellschaftskritik in Kübeln ausschüttet, die ihre Figuren ernst nimmt, so dass ich ihnen glauben kann, weil sie auch gegen ihre Autorin ansprechen, in der weibliche Figuren sich aufeinander beziehen und in einander spiegeln, statt für einen männlichen Protagonisten eine Arabeske zu formen, an der entlang er sich hangelt und bildet und in der männliche Figuren sich ihrer eigenen Männlichkeit (und damit ihrer Nicht-Universalität) bewusst werden. Und es zeigt sich: In solcher Art erzählender Literatur, wie sie mein Begehren gegenwärtig sucht und findet, kommt die Dreckarbeit beinahe immer und nicht nur beiläufig vor, die Ina Praetorius meint. 

Und so kann ich schließlich Ina Praetorius´ ganz unliterarisch anmutender Relevanzbehauptung nur zustimmen, oderrrrr???


6 Kommentare:

  1. Der Tod einer Frau ist für manchen Mann ein Verlust, der Tod eines konkurrierenden Mannes nicht. Reale Angst zu bannen, dürfte die Vorstellung kaum ausreichen, dazu müsste wohl das Überleben persönlich erfahren werden - wenn es denn Todesangst gibt und nicht bloß die Pflicht, sich zu ihr zu bekennen, am Schein ihrer rituellen Verdrängung mitzuwirken (z.B. weil ein Akzeptieren des Sterbens, als Absage an die Gesellschaft missverstanden, zur Ausgrenzung führen könnte). "Sich über ihre Leiche selbst zu produzieren" - dazu kann man Bronfen um Theweleits Belege des tatsächlichen (nicht nur tödlichen) Frauenopfers im Dichterleben ergänzen. Vielleicht bestimmen hier eklige Homestorys die Literatur. (Noch schlimmer wäre es umgekehrt.)

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    1. Ja, ich glaube auch, dass Bronfens Schlussfolgerung, es gehe hier allein, um die Bannung der Todesangst (des schreibenden oder lesenden) Mannes zu kurz greift. Im Buch, das ja nie in so einem kleinen Zitat gefasst ist, differenziert sie das aus. Es geht sicher oft weniger um die konkrete Frau, als um "das Weibliche", das sich über der (erschriebenen, der fiktiven) Leiche angeeignet wird, das eben "das Andere" ist in jener patriarchalen Welt, in der auch (manche) Männer nicht immer gern leben. Für Frauen ist das (nur) deshalb problematisch, weil sie nicht die Möglichkeit haben ihr Ungenügen (an sich, der Welt, den anderen) über ein Anderes auszudrücken, denn das Andere eines Weiblichen ist das Männliche, das in unserer Kultur als Universelles gesetzt ist. Theweleit hat - auf manchmal wirklich erschütternde Weise - gezeigt, dass dem fiktiven Mord nicht selten ein Sterben, ein zu-Tode-bringen, ein zumindest der eigenen-Stimme-berauben in der Wirklichkeit zugrunde lag, grauslige Home-Stories über Dichter-Männer und die Frauen, die ihnen "Musen" waren. Mich schaudert immer noch, wenn ich lese, wie beispielsweise Novalis sich über der Leiche seiner verstorbenen Kindverlobten als Dichter erfindet.

      Es gab auch, gelegentlich, den umgekehrten Fall: ein Mann, der im "richtigen Leben" an einer (Kind-)Frau schuldig wurde, aber nicht sich aus der Trauer über sie als Dichter schuf, sondern ihr ein Gedächtnis, nicht als "Bild einer Frau", sondern als einer lebendigen, wirklichen Frau erschrieb. Zum Beispiel Maria-Dorothea Stechard, von der Lichtenberg in seinen berühmten Briefen an Garve und Amelung erzählte: Der Bucklige und das Mädchen

      Man kann die Geschichte der Liebes-Beziehungen zwischen Männern und Frauen und der Erzählungen über die Liebe in der Literatur nicht in eins setzen. Aber sie setzen sich und stehen immer, in jeder Kultur, in jeder Tradition in einem Verhältnis zueinander. Dass die Perspektive, aus der diese Geschichten erzählt wurden, historisch um die der Frauen verkürzt wurde, dass "die Frau" und "das Weibliche" in diesen Erzählungen zum Objekt des Begehrens wurden und zum Symbol der Begehrlichkeit und Verzweiflung "des Mannes" hat sich auf wirklich lebende Männer und Frauen, auf ihre Selbstbilder, ihre Verhaltensweisen ausgewirkt. Nicht immer zu besten. Ein bedeutungsschwangerer Romantizismus, der an der bleichen, schönen, weiblichen Leiche festhält, kann mich heutzutage kaum mehr berühren. Das ist einfach als literarischer Topos und Produktionsmodus aus meiner Sicht völlig ausgereizt.

      Für manche allerdings sicher nicht, die unverdrossen schreiben, welch spannender Anlass nebst anderen "Dingen" ihnen weiterhin auch das Objekt "Frau" sei, um sich ästhetisch zu bilden. Sei´s drum. Mich interessiert das halt weniger. Es schreiben aber zum Glück auch viele männliche Autoren ganz anders und über ganz anderes und schaffen sich literarisch weibliche Gegenüber, die zu mehr taugen, als zur Selbstaffirmation. (Meine allerliebste unter denen ist Gesine Cresspahl von Uwe Johnson.)

      Schade wäre es, wenn Männer über den Tod eines anderen Mannes nicht trauern, ihn nicht als Verlust empfinden könnten. Das ist doch aber sicher mit dem ersten Satz nicht gemeint: "Der Tod einer Frau ist für manchen Mann ein Verlust, der Tod eines konkurrierenden Mannes nicht." Männer, denke ich, gehen zueinander durchaus auch andere Beziehungen ein als die der Konkurrenten. Steht ja auch da: "manche" nur sind so.

      Viele Grüße
      M.

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    2. Danke für diese schöne Antwort. Das Buch (Bronfen) habe ich gelesen. Den Tod des konkreten anderen Mannes, des Freundes, Bruders usw. betrauern meine manchen Männer durchaus als Verlust, auch der Tod Unbekannter, wenn sie ihn, etwa bei einem Unfall, selbst erleben, kann sie erschüttern - doch die Fiktion muss viel aufbieten, ihnen eine männliche Figur nahe zu bringen, dass ihr erzählter Tod sie betrifft. Sie sterben seit Homer in Scharen, niemand weint um Achill, während Mann um Briseis bangt - bis zum Slasher Film, der das Final Girl erfand und keinen Final Boy. Nachrichten berichten von Gewalttaten, unter den Opfern seinen Frauen gewesen, beklagenswerter als männliche Tote - wenn sie nicht gleich "Frauen und Kinder" seemännisch zusammenstellen. Die Manchen, denke ich, sind viele, keine Soziopathen, aber in übererzähltem Weltbild verirrt.

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    3. Das ist gut ausgedrückt: "im übererzählten Weltbild verirrt". Ja.

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  2. Ich sammle literarische Texte zum Thema, für einen Workshop am 30. August, hier: http://abcdesgutenlebens.wordpress.com/denkumenta-2013/programm/
    Für Mithilfe, was das Sammeln und die Theoriebildung angeht, bin ich dankbar. Meine Sammlung umfasst bereits dieses grossartige Durcheinander: Christian Enzensberger, Marlen Haushofer, Elfriede Jelinek, Ismail Kadaré, Marie-Luise Kaschnitz, Gottfried Keller, Brigitte Kronauer, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Kristin T. Schnider ... Geplant ist längerfristig eine Anthologie mit theoretischem Essay, nach diesem Muster: http://bit.ly/17ga3Gl
    Danke!

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    1. Ich komme da auch hin nach St. Arbogast. Freue ich mich schon sehr drauf. Über geeignete Texte für eine Anthologie denke ich nach und melde mich dann mal, hab schon einige Ideen. Viele Grüße!

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