Ein Beitrag von Morel
Renata Adler, Autorin des dieser Tage wieder aufgelegten „Romans“
Speedboat, prägte in einem ihrer Essays den Begriff „radikaler Zentrismus“. Wer
Speedboat zu lesen beginnt, wird schnell merken, dass diese Position der Mitte
wenig mit Ausgleich oder faulen Kompromissen zu tun hat, sondern eher mit der
radikalen Skepsis gegenüber fertigen Meinungen und definierten Entscheidungen.
„Einige von uns sind
Vegetarier. Einige trinken zuviel. Einige nehmen Pillen. Möglicherweise haben
wir alle unabhängig voneinander die Fähigkeit entwickelt jede laufende, allzu
gut laufende Unternehmung abzulehnen.“
Auch ästhetisch ist Adler schwer zu fassen. Als ich das
dem Buch als Motto vorangestellte Zitat aus einer der frühen, hochkomischen
Satiren Evelyn Waughs las, freute ich mich unbewusst auf eine amüsante Reise
durch den intellektuellen Jet-Set des New Yorks der 70er (zu dem Adler als
Journalistin durchaus gehörte). Aber Woody Allen lebt hier nicht mehr, selbst
wenn sein Sarkasmus immer noch in der Luft liegt.
Doch Speedboat hat durchaus etwas von einer Reise,
allerdings nur von den ersten Momenten nach der Ankunft, wenn man aus einem
Flugzeug oder Zug steigt, übermüdet und durstig, in eine fremde Sonne blinzelnd
und auf jede Bewegung mit dieser leichten Panik reagierend, die plötzliche Geräusche
an einem stillen Nachmittag auslösen.
Es gibt, Leserin sei gewarnt, selbst nach 100 Seiten
keine Gewöhnung an diese Prosa, die aus Erinnerungseindrücken, Sprachkritik,
Partygeschwätz und Werbeeinblendungen das Bild einer Welt ohne stabiles Zentrum
zusammensetzt. Der Reisende kommt niemals über die Ankunft hinaus, jeder Tag
ist neu und was ihn mit dem vorigen verbindet ist unsicher. Daher gibt es auch
wenig nachzuerzählen, diese Prosa handelt von nichts anderem, als dem
Bewusstsein einer inzwischen schon vergangenen Gegenwart.
Der Unterschied zwischen Ich und Wir in Speedboat ist eher durchlässig. Geschildert
werden Gruppen- und Bewusstseinszuständen, aber nichts, was sich zu einer
stabilen Persönlichkeit ausbilden könnte. In der radikalen Mitte dieser Prosa
steht eine Frau, Jen Fain, die als Journalistin und Universitätslehrerin
arbeitet, auf Partys geht, Reisen macht und sich an ihre Kindheit und Jugend
auf dem Land erinnert. Das alles nur in Splittern notiert, unterbrochen von
sarkastischen Beobachtungen, einen Absatz langen Miniaturdramen und Werbe- und
Nachrichtenmüll aus der Aktualität der 70er Jahre (von den Watergate-Anhörungen
bis zu alltäglichen Morden). Die Partner von Jen sind austauschbar, einer ist
politischer Berater und telefoniert nachts gerne. Ihre Schwangerschaft
vergleicht sie mit einer Geiselnahme – die damals berühmteste Geisel: Patty
Hearst in Händen der Weathermen.
„Schwanger werden ist wie
eine Geisel zu nehmen – so ähnlich wie ein Pfandhaus oder eine Bank zu
betreiben, einen Brief zu bekommen, ein Photo zu machen oder ein Geständnis
anzuhören. Jede Liebesgeschichte, jedes Geschäft, jedes Geheimnis, alles wozu
Vertrauen gehört ist ein sanfter Austausch von Geiseln.“
Die Gesellschaft zusammengehalten durch das Netz unserer
gegenseitige Abhängigkeit. Wie fragil diese Netze sind, das schwingt in der
nervöse Prosa von Renata Adler immer mit. Jen, so erfahren wir einige Zeilen später
hat Jim, dem Vater des Kinds in ihrem Bauch, ihre Schwangerschaft verschwiegen, ihr fehlt das Vertrauen in diese
unsichtbaren Netze, die uns zu Paaren und Gruppen zusammenführen sollen. Sie
glaubt aber auch nicht an die radikale Andersheit des Individuums und all die
Boheme-Lügen, mit denen sich ewige Jugendliche jetzt auch schon seit
Jahrzehnten ihre Wände tapezieren. Letztendlich ist es der Ton, der Sound, der
dieses Buch zusammenhält: cool, nervös, manchmal böse, niemals zur Ruhe
kommend. Ein literarisches Gegenstück zu Bob Dylans gleichzeitig entstandenem
Ehekrisen-Epos Blood on the Tracks,
wo er wie Adler unaufhörlich zwischen Ich und Wir schwankt, um dann Ruhe in der
Dritten Person Singular zu finden.
Ungefähr 10 Jahre nachdem Speedboat in die Buchläden kam
und ausgerechnet im Namen von Obermacho Hemingway ausgezeichnet wurde,
erinnerte sich Lloyd Cole auf seiner ersten Platte Rattlesnakes, einem
Meisterwerk des Songwritings und Namedroppings an Renata Adler: Im zweiten Song
auf der A-Seite Speedboat heißt es: I lived on the edge of all
this indulgence / taking notes and trusting in prudence. Notizen machen und auf
die Klugheit vertrauen – so betont unromantisch schreibt Renata Adler.
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