Dienstag, 2. Juli 2013

COUNT DOWN (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)

"Diese Frau", dachte Sternchen. Statt "Mama". Wir haben keine Mutter. Unsere Mutter hat uns um unseren Vater betrogen. Aber vielleicht war auch das gelogen. Niemand konnte ihr trauen. Wir am allerwenigsten, denn uns hat sie lieben lassen, mit uns ist sie über den Boden gerobbt, uns hat sie im Bett geknuddelt, uns hat sie die Haare gestrubbelt. Wir waren ihr verfallen, lange bevor wir denken konnten: "Schöne Mama." Denn schön war sie auch. Ein Bild von einer Frau und Mutter. Wir standen ihr gut zu Gesicht. Sternchen strich sich die Haare aus der Stirn. 

"Ich will sie nicht sehen." 
Schnuppe und sie waren in einem Leihwagen auf dem Weg zum Fraport. 
"Das fällt dir früh ein."
"Und du?"
"Ich wollte von Anfang an nicht. Ich wünschte, diese Frau hielte sich aus unserem Leben heraus."
"Unsere Mutter."
"Um diesen Namen hat sie sich selbst gebracht."
"Konntest du dir jemals vorstellen, wie sie uns geboren hat?"
"Das tat sie nicht."
"Wir könnten uns irren. Wir könnten alles falsch verstanden haben. Wenn das ein Science fiction-Roman wäre."
Schnuppe lachte. 
"Ein sehr altmodischer. Ein traditioneller Familien-Roman mit Scifi-Einschlag, oder was?"
"Wollen wir umkehren?"
"Wir ziehen das jetzt durch."
"Sie wird nichts sagen. Sie wird so tun, als sei alles in Ordnung."

Sie schwiegen. Schnuppe und Sternchen auf dem Weg zum Rendezvous mit ihrer Mutter, die sie Jahre lang nicht gesehen hatten. Beide spürten im Unterleib das hässliche Gefühl, das sich ausbreitete, wenn Magen und Darm rebellierten. Sie hätten Ausreden erfinden können. Aber sie hatten zu lange gewartet, um noch einen Rückzieher zu machen, eines auf des anderen Reaktion. Wie viel Mut brauchten sie, um diese Frau zu treffen? Wir wollen sie schuldig sprechen, um unsere eigenen Taten zu vergessen. Er ging nicht, weil sie es verriet. Er ging, weil er uns beobachtet hatte. Er wagte es, sie zur Rede zu stellen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und wir auch nicht. Keiner von uns hatte geahnt, dass er allein zusammenhielt, was für uns ´Familie´  ist. War. Familie war. Waren wir einmal eine Familie? Mama, Papa, Schnuppe und Sternchen. Eine Fiktion. Wir wissen nur noch nicht, wer sie erfunden hat. Er oder sie? Wir? Eine andere? Wer steckt hinter unserem Leben?

"Was ist", unterbrach Sternchen das Schweigen, "wenn es uns gar nicht gibt?"
Schnuppe schnaubte.
"Ich meine, nicht so, wie wir uns kennen. Wenn wir nur eine Erfindung sind. Die sie gebraucht haben."
Schnuppe rieb sich das Kinn.
"Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien. Ich glaube an den sinnlosen Zufall. Und daran, dass wir zu weit gegangen sind. Und seither bezahlen. Ich glaube an die Schuld."
Sternchen schwieg. Sie glaubte das nicht. Das trennte sie. Aber sie konnte sich eine Trennung von Schnuppe nicht leisten. Und umgekehrt. Darin zumindest waren sie sich einig und sicher. 

Schnuppe fuhr den Wagen ins Parkhaus. Sie nahmen einen Fahrstuhl in die Halle A. Auf dem großen Display fanden sie den Flug aus Mallorca schnell. Er war bereits gelandet. Sternchen griff nach Schnuppes Hand. "Es ist soweit."

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