Ein Beitrag von Morel
Im Editorial der neuesten Ausgabe der Musikzeitschrift
Wire zieht Herausgeber Chris Bohn einen interessanten Vergleich: Digitale
Archive zerstörten Zeit und Erinnerung auf ähnliche Weise wie der Massentourismus
die romantische Unzugänglichkeit ferner Länder. Jede Analogie hat ihre Grenzen,
aber Bohns Vergleich regt dazu an nach möglichen Formen einer sich
entwickelnden Industrie für massentouristisch organisierte Zeitreisen zu
suchen. Wie englische Exzentriker die ersten Formen des Tourismus entwickelten,
entdeckten die Dandys des 19. Jahrhundert als erste, dass sie im falschen
Jahrhundert zur Welt gekommen seien. Aber ist dieses Gefühl der Unzulänglichkeit
der Gegenwart heute tatsächlich schon ein Massenphänomen?
Generell scheinen ja die Apologeten des „Jetzt“ (Rainald
Goetz) gegen die melancholischen Verteidiger der Vergangenheit noch die Oberhand zu haben. Wer will schon
eine Frau oder ein Mann von Gestern sein. Die Popindustrie liefert jeden Tag
einen neuen, im letzten Talentwettbewerb gestählten Star aus – so wie früher
auch die Zeitungen jeden Tag aus der Druckerpresse kamen. Aber immer mehr
Zeitgenossen steigen aus der Gegenwart aus. Im letzten Sommer sang Lana del Rey
in ihrem morbiden Song Video Games von ihrer Jugend in den 80ern – für die
Patina dieser Jüngstvergangenheit sorgten verwaschene Szenen im Homevideo-Stil.
Dem Song war das Nostalgie-Etikett deutlich auf die Stirn geklebt, was ihn aber
seiner hypnotischen Wirkung nicht berauben konnte. In diesem Sommer sind wir
mit Get Lucky schon einen Schritt weiter. Die eigentlich futuristisch gesinnten
Daft Punk rekonstruierten in sage und schreibe 18 Monaten ein knapp vierminütiges
Disco-Stück von 1980 inklusive wundervollem Gitarrenspiels vom legendären Nile
Rodgers. Wir sehnen uns nicht mehr nur zurück nach Zeiten, die wir in der Regel
nicht erlebt sondern verpasst haben, wir konstruieren diese Zeiten bis aufs I-Tüpfelchen
nach. Wer 1980 als verbohrter Punk zu blöd war, in die Disco zu gehen, kann es
jetzt für immer nachholen.
Auch im Film ist die Rekonstruktion verpasster Zeiten
schwer im Kommen. Olivier Assayas ist mit Apres Mai eine schöne Wiederbelebung
der 70er zwischen Räucherstäbchen und Matritzendrucker (eine Vorrichtung, um
Flugblätter oder Schülerzeitungen zu vervielfältigen) gelungen. Anders als die
Nostalgie-Welle in den neuen Serienformaten vermeidet Assayas den
besserwisserischen Blick aus einer geläuterten Gegenwart auf politische
Verwirrungen einer vergangenen Zeit. In ihrer ideologischen Verbohrtheit und
ihrem gedankenlosem Eskapismus bleibt seine Jugend allein und von keiner
Zukunft gerechtfertigt – selbst die 50 Jahre alten Songs von Nico und Kevin
Ayers, zweier im Musikgeschäft gescheiterter Größen der 70er, klangen wie zum
ersten Mal. Der Film hatte seine Verächter, die ihm genau vorwarfen, die Ansätze
des Neuen in dieser Zeit zu Gunsten einer falschen Ganzheit zu verraten. Wie
die Daft Punk-Disco-Rekonstruktion ist sein Film perfekt – jeder tatsächliche
Film aus den 70ern wäre weniger cool, der Soundtrack kitschiger, die
Schauspieler mit ihren 50er-Jahre-Halbstarkengesten noch nicht in der Gegenwart
angekommen, sondern immer noch unter dem Ballast der Nachkriegszeit stöhnend.
Die Vergangenheit in den neuen Vergangenheitsrekonstruktion soll aber perfekt für
sich sein, an der Tür vor dem antiquarischen Hotelzimmer ein Schild: Bitte
nicht stören.
Aber wozu das alles. Das fragen ja auch immer die
Kritiker des Massentourismus. Weshalb in die Toskana fahren und Bücher lesen
und nicht im sommerlichen Vogelsberg. Es wäre schön einfach, wenn es sich noch
um 50 bis 60jährige handeln würde, die ihre Vergangenheit wiederbeleben möchten.
Aber so wie die Heimatflucht im Tourismus inzwischen alle Schichten erfasst,
scheint zunehmend auch die jüngere Generation genug von der Zeitgenossenschaft
zu haben. Mit den Zeitungsabonnements wird ja genau diese aufgekündigt: ich
brauche nicht mehr die Zeitungen, das durch ihr Erscheinungsdatum verbürgt Neue,
um die Zukunft der Gegenwart zu entdecken (was jeder politisierte Hipster der
70er bis 80er Jahre selbstverständlich tat). Tatsächlich scheint die
Vergangenheit heute mehr Zukunft zu erhalten als jeder noch so schöne Moment.
Die Schuld der Gegenwart ist ihre Alternativlosigkeit – das ist aber
wahrscheinlich nur eine Illusion. Im nächsten Jahr feiert das Jahr 1914 seinen
100jährigen Geburtstag und damit eine Zeit, die auch keine Zukunft mehr zu
haben glaubte. Die Langeweile an der Gegenwart könnte plötzlich umschlagen.
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