Mittwoch, 21. August 2013

BITTE NICHT STÖREN - Pauschalreise in die Vergangenheit


Ein Beitrag von Morel

Im Editorial der neuesten Ausgabe der Musikzeitschrift Wire zieht Herausgeber Chris Bohn einen interessanten Vergleich: Digitale Archive zerstörten Zeit und Erinnerung auf ähnliche Weise wie der Massentourismus die romantische Unzugänglichkeit ferner Länder. Jede Analogie hat ihre Grenzen, aber Bohns Vergleich regt dazu an nach möglichen Formen einer sich entwickelnden Industrie für massentouristisch organisierte Zeitreisen zu suchen. Wie englische Exzentriker die ersten Formen des Tourismus entwickelten, entdeckten die Dandys des 19. Jahrhundert als erste, dass sie im falschen Jahrhundert zur Welt gekommen seien. Aber ist dieses Gefühl der Unzulänglichkeit der Gegenwart heute tatsächlich schon ein Massenphänomen?

Generell scheinen ja die Apologeten des „Jetzt“ (Rainald Goetz) gegen die melancholischen Verteidiger der Vergangenheit noch die Oberhand zu haben. Wer will schon eine Frau oder ein Mann von Gestern sein. Die Popindustrie liefert jeden Tag einen neuen, im letzten Talentwettbewerb gestählten Star aus – so wie früher auch die Zeitungen jeden Tag aus der Druckerpresse kamen. Aber immer mehr Zeitgenossen steigen aus der Gegenwart aus. Im letzten Sommer sang Lana del Rey in ihrem morbiden Song Video Games von ihrer Jugend in den 80ern – für die Patina dieser Jüngstvergangenheit sorgten verwaschene Szenen im Homevideo-Stil. Dem Song war das Nostalgie-Etikett deutlich auf die Stirn geklebt, was ihn aber seiner hypnotischen Wirkung nicht berauben konnte. In diesem Sommer sind wir mit Get Lucky schon einen Schritt weiter. Die eigentlich futuristisch gesinnten Daft Punk rekonstruierten in sage und schreibe 18 Monaten ein knapp vierminütiges Disco-Stück von 1980 inklusive wundervollem Gitarrenspiels vom legendären Nile Rodgers. Wir sehnen uns nicht mehr nur zurück nach Zeiten, die wir in der Regel nicht erlebt sondern verpasst haben, wir konstruieren diese Zeiten bis aufs I-Tüpfelchen nach. Wer 1980 als verbohrter Punk zu blöd war, in die Disco zu gehen, kann es jetzt für immer nachholen.

Auch im Film ist die Rekonstruktion verpasster Zeiten schwer im Kommen. Olivier Assayas ist mit Apres Mai eine schöne Wiederbelebung der 70er zwischen Räucherstäbchen und Matritzendrucker (eine Vorrichtung, um Flugblätter oder Schülerzeitungen zu vervielfältigen) gelungen. Anders als die Nostalgie-Welle in den neuen Serienformaten vermeidet Assayas den besserwisserischen Blick aus einer geläuterten Gegenwart auf politische Verwirrungen einer vergangenen Zeit. In ihrer ideologischen Verbohrtheit und ihrem gedankenlosem Eskapismus bleibt seine Jugend allein und von keiner Zukunft gerechtfertigt – selbst die 50 Jahre alten Songs von Nico und Kevin Ayers, zweier im Musikgeschäft gescheiterter Größen der 70er, klangen wie zum ersten Mal. Der Film hatte seine Verächter, die ihm genau vorwarfen, die Ansätze des Neuen in dieser Zeit zu Gunsten einer falschen Ganzheit zu verraten. Wie die Daft Punk-Disco-Rekonstruktion ist sein Film perfekt – jeder tatsächliche Film aus den 70ern wäre weniger cool, der Soundtrack kitschiger, die Schauspieler mit ihren 50er-Jahre-Halbstarkengesten noch nicht in der Gegenwart angekommen, sondern immer noch unter dem Ballast der Nachkriegszeit stöhnend. Die Vergangenheit in den neuen Vergangenheitsrekonstruktion soll aber perfekt für sich sein, an der Tür vor dem antiquarischen Hotelzimmer ein Schild: Bitte nicht stören.

Aber wozu das alles. Das fragen ja auch immer die Kritiker des Massentourismus. Weshalb in die Toskana fahren und Bücher lesen und nicht im sommerlichen Vogelsberg. Es wäre schön einfach, wenn es sich noch um 50 bis 60jährige handeln würde, die ihre Vergangenheit wiederbeleben möchten. Aber so wie die Heimatflucht im Tourismus inzwischen alle Schichten erfasst, scheint zunehmend auch die jüngere Generation genug von der Zeitgenossenschaft zu haben. Mit den Zeitungsabonnements wird ja genau diese aufgekündigt: ich brauche nicht mehr die Zeitungen, das durch ihr Erscheinungsdatum verbürgt Neue, um die Zukunft der Gegenwart zu entdecken (was jeder politisierte Hipster der 70er bis 80er Jahre selbstverständlich tat). Tatsächlich scheint die Vergangenheit heute mehr Zukunft zu erhalten als jeder noch so schöne Moment. Die Schuld der Gegenwart ist ihre Alternativlosigkeit – das ist aber wahrscheinlich nur eine Illusion. Im nächsten Jahr feiert das Jahr 1914 seinen 100jährigen Geburtstag und damit eine Zeit, die auch keine Zukunft mehr zu haben glaubte. Die Langeweile an der Gegenwart könnte plötzlich umschlagen. 

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