Wir
spielten das oft: „Vater, Mutter, Kind.“ Die Rollen von Vater und Mutter
wechselten, mal war es die beste Freundin, mal ich. Das Kind war immer mein
kleiner Bruder. Das hat Traumata hinterlassen, offenbar. Er hat es sogar seinen
Söhnen erzählt: „Immer musste der Papa das Kind sein. Das wollt´ er aber nicht,
Tante.“
***
„vater.mutter.kind“
ist der Titel einer Sammlung von Erzählungen die Susanne Englmayer 2012 als
Ebook herausgebracht hat. Der Entstehungszeitraum dieser Erzählungen umfasst
mehr als zwei Jahrzehnte. In allen geht es um Familienverhältnisse, um jene
intimsten Nahbeziehungen zwischen Menschen, in deren vorgeblichen Schutzraum
bekanntlich die meisten Verbrechen geschehen. Was in Susanne Englmayers
Erzählungen die Nahverwandten einander antun, ist in den seltensten Fällen
justiziabel, aber immer lebensbedrohlich.
Es
ist wichtig, sich beim Lesen den allen Erzählungen vorangestellten Paragraphen
5, Absatz 19 aus dem inneren Überlebensgesetzbuch, aus dem noch weitere
Vor-Sätze im Erzählungsband veröffentlicht sind, vor Augen zu halten: „Es gibt keine Richtlinien beim Hantieren mit
menschlichen Überresten. Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder schon toten
Personen wären rein abfällig und sind daher weder erwünscht noch irgendwie zu
verhindern.“ Es steckt viel Wut in diesen Erzählungen und viel Arbeit an
Sprache, um sich von dieser Wut zu distanzieren. Eine Leserin mag, sich
einlesend in diese Geschichten, versucht sein, das „Ich“ einiger Erzählungen
für ein autobiographisches zu nehmen. Davor wird aber – wie das Zitat zeigt -
nachdrücklich gewarnt. Distanzierung von erlebtem Grauen mit den Mitteln der
Sprache ist nicht möglich ohne Selbstdistanzierung und damit
Selbtsverlust; das führt
Englmayers Prosa vor und sie stellt den Preis, den das kostet aus: die Nähe zum
Verstummen in den verstümmelten Sätzen, in der betonten Sachlichkeit, in den
starken und schlichten Bilder vom Familienleben als tödlichem Krieg: „Den Weg durch die Diele lege ich wieder auf
dem Bauch robbend zurück. Das Gebiet wir dimmer schwieriger. Es ist stark
vermint. Stacheldraht ist auch gespannt. Zwischen Küche, Wohn- und
Schlafzimmer. Eigentlich nicht wegen mir. Wegen meinem Vater. Und meiner
Mutter. Es ist ihr Todesstreifen.“
Zwischen
den „Luftkrieg“, der die Kindheit
einer Mutter prägt und das „Schlachtfeld“, in das eine andere Mutter gleicher Generation Jahre später das Leben der
Tochter verwandelt, setzt Englmayer die kleine Erzählung: „einen vogel töten“. Eine Erzählung, die nur noch aus Stummelsätzen
zu bestehen scheint: „Alles Lüge. Glauben
Sie mir. Oder nicht? Los. Kommen Sie. Sagen Sie mir die Wahrheit. Erst Sie.
Dann ich.“ Kursiv gedruckt der Vogel: „ich
bin frei. vogel. wie du. das land. sie töten mich. wie dich. die jäger.“
Auf die Beschädigung und die (Auto-)Aggression folgt der Rückzug in eine
animalische Existenz, die beinahe sprachlos wird. Jede Freiheit ist
lebensgefährlich. Dieser Vogel kann vom Fliegen nur in einer Weise träumen: „fliegen. Immer wieder. endlos. Freiheit. Ist
ein schönes wort. für tod.“
Englmayers Erzählungen spielen in tristen Mietwohnungsbauten, zwischen Bahngleisen und auf
schäbigen Bahnhöfen. Selten werden viele Worte für die Beschreibung der Umgebung
gemacht, keine Überblicke, keine Totalen. Stattdessen konzentriert sich die
Autorin auf Gegenstände, Nah- und Detailaufnahmen, z.B. Schraubenzieher: „Rotes Plastik, durchsichtig, 10cm der Griff.
Chrom-Vanadium....Ich habe einen ähnlichen Schraubenzieher. Meiner ist blau.“
Alles kann ein Mordinstrument sein. Vor allem die Sprache. Dagegen hilft der Schwur
im Einwort: „niemehrsagicheinwort.“
Natürlich nicht. Wer nichts sagt, kriegt Schläge.
Meine
Lieblingsgeschichte in dieser Sammlung trägt den Titel: „Kanadisches Holz“. Es ist eine Geschichte, die sich von Anbeginn an
selbst in Frage stellt: „Im Grunde ist es
nicht einmal eine Geschichte. Es ist nie eine gewesen. Und wollte auch keine
sein, keine werden. Trotzdem. Die Geschichte beginnt. Jetzt, in diesem
Augenblick. Hier, in diesem
Moment. Weil ich es so will.“ Die Geschichte, die erzählt wird und die es
nie gab, diese Geschichte aus der Gegenwart wird vom Tod des Mannes her
erzählt, der sie nicht erzählt hat: „Der
Mann ist vor ein paar Monaten gestorben. Ein unspektakulärer Tod in einem
Krankenhaus. Ein Krebstod, wie so viele. Ein alltäglicher Tod, wie der Tod eben
alltäglich ist. Ohne dass ich es wahrhaben möchte. Weder den Tod an sich, noch
den Tod dieses Mannes. Aber danach fragt niemand. Auch meine Geschichte nicht,
sie will etwas ganz anderes. Sie beginnt lange vor diesem Tod. Eigentlich mit
der Geburt dieses Mannes, was vielleicht ein wenig weit hergeholt ist. Trotzdem
scheint es mir wichtig zu erwähnen, dass dieser Mann sein Leben lang ein Mann
war. So gut er es eben konnte“ Die Geschichte dieses Mannes, der eigentlich
ein Mädchen hätte werden sollen und – wie die Ich-Erzählerin behauptet – auch
hätte werden wollen, wird von seiner frühen Kindheit an erzählt. Es ist die
unspektakuläre Geschichte eine unspektakulären Lebens. Trotzdem: „Der Mann war also ein Mann, er ging
Kompromisse ein. Natürlich. Was sonst sollte er tun. Doch er verlor sich nicht.
Erblieb was er war. Was er eigentlich war. Eigensinnig und schweigsam, so
gesellig er sein konnte. Er war auffällig von Anfang an. Und dabei völlig
unauffällig. Unbeachtet eben, sein ganzes Leben. Seine Liebe war immer eine
Liebe aus der Ferne.“ Die Erzählung eines ganzen Männerlebens müsste ein
Roman werden. Aber Engelmayer geht ganz schnell über die scheinbar wichtigen
Daten dieses Lebens hinweg: Freundschaften, Lehre, Ehe, Kinder. Die Erzählung
konzentriert sich auf die eine, die ungelebte Liebesgeschichte im Leben diese
Mannes. Ein junger Mann mit einem Motorad lernt eine junge Frau kennen, ein
Wochenende bringen sie gemeinsam an einem See. Vielleicht war es auch nur ein
Abend. Die Erzählerin weiß es nicht genau. Der junge Mann versäumt es, sich
wieder bei der jungen Frau zu melden, monatelang. Weihnachten schließlich traut
er sich mit dem Motorrad hin zu ihrer Familie, platzt in die
Weihnachtsvorbereitungen und findet die junge Frau als Verlobte eines anderen
Mannes vor, mit dem sie bald nach Kanada auswandern wird. Der junge
Mann kauft einen Bildband über Kanada, den er der jungen Frau ans Schiff nach
Bremerhaven bringt. Irgendwie gelingt es dem Mann, den Bildband zu übergeben.
Der Mann baut später einen Schrank aus kanadischem Holz. „Die Geschichte ist
hier nicht zu Ende. Es wäre denkbar, aber es ist nicht so. Sie hat nur eine
Lücke, sie macht einen großen Satz nach vorn. Die Geschichte steckt sich lang
wie eine Katze, überbrückt dabei viel Raum. Viel Zeit.“ Die Lücke, die die Geschichte
überbrückt ist das Leben des Mannes: eine gescheiterte Ehe, Einsamkeit.
Irgendwann liest der Mann in einer Zeitschrift einen Leserbrief einer Frau, die
vielleicht die nach Kanada ausgewanderte, von Ferne geliebte sein könnte. Er
fährt mit dem Auto in den Ort, der als Absender des Leserbriefs angeben ist. Er
sucht die Frau. Vielleicht ist sie gar nicht die Briefschreiberin. Er findet
sie nicht. „Seine Liebe war immer eine
Liebe aus der Ferne. Hier ist die Geschichte nun wirklich zu Ende. Niemand weiß
das. Niemand kümmert das. Keiner kennt diese Geschichte, auch jetzt nicht. Auch
ich nicht. Ich habe keine Ahnung. Auch ich habe diese Geschichte nur erfunden.
Auch mir ist unbegreiflich, woher sie kommt. Und warum sie mit einem Mal in der
Luft liegt.“ Es mag in jedem noch so beschädigten Leben eine Lücke geben,
in der sich eine Geschichte verbirgt, der dieses falsche Leben nur eine Lücke
ist. „Die Wahrheit“, schreibt Susanne
Engelmayer am Ende dieser Geschichte, „liegt
in der Sehnsucht, die immer in der Ferne wohnt.“
Das
ist einer der längsten Sätze in „vater.mutter.kind“. In den
Familienkonstellationen, von denen diese Geschichten erzählen, sind die Verbrechen,
von denen schon die antiken Mythen handeln, beinahe lautlos geworden: „Der Vater trägt den Tod im Atem und die Weisheit
vor sich her. Er trägt sie vor, der Grieche. Immer wieder, immer gleich. Und
die Schwertspitze, die legt er dem Gegenüber sanft auf die Brust, anvertraut
dem Gegner ihr ganzes Gewicht. Das ruht sich gern auf fremden Körpern aus,
schneidet tiefe Wunden ins Leben, zärtlich fast und gütig.“ Es sind
Erzählungen aus einer profanen Kindheit in den 60er und 70er Jahren der BRD des
vergangenen Jahrhunderts, aus den „fetten Jahren“ nach dem „Wirtschaftswunder“.
Aber auch hinter den Gardinen in den Fenstern der Mietskasernen spielen sich
Tragödien ab, die keine Fallhöhe brauchen, um ganz tief einzuschneiden.
Das
ist bitter, trotzdem nicht ohne Humor erzählt: „Man ist ja Mensch, man ist verspielt. Auch
wenn man verspielt hat, irgendwann.“ Vor allem aber: Nicht ohne
Zärtlichkeit, die sich hinter einer scheinbar „eiskalten“ Fassade verbergen
muss. Susanne Englmayer findet eine Sprache, ganz dicht am Verstummen, eine
Sprache, in der das Unbegreifliche gesagt werden kann, der Hass, die Trauer, das
Versagen angesichts einer Nähe, die nichts anderes offenbart als grauslige
Leere. Das Sprechen fällt schwer, wenn es soviel Grund zum Misstrauen gibt. Es
ist trotzdem notwendig. „Ob die Geste mit
ihrem Inhalt verbunden ist oder nicht, lässt sich niemals mit Sicherheit sagen.
Ebenso ist es mit den Worten, die ihre Bedeutung verlieren können, ihren Sinn
und jeden Zusammenhang, wenn sie zu lange verschwiegen werden. Berührungspunkte
zwischen Gesten und Worten und der jeweiligen Bedeutung, zwischen Nacht und
Tag, zwischen Menschen und Göttern sind grundsätzlich flüchtig und lassen sich
weder halten noch widerrufen. Oder gar beweisen.“ Es kommt nicht auf die
Erzeugung einer endgültigen Bedeutung, auf ein Urteil an, sondern auf das Sagen
selbst, die Geste des Sprechens, eine zaghafte, ein zögerliche Bewegung auf
andere hin und zu. Es gibt keine Garantien. Aber dieser Erzählungsband ist
gelungen; er spricht zu seinen Leserinnen mit einer Stimme, die tief berührt.
***
Auch
in der ersten Erzählung des Bandes von Susanne Englmayer spielen Kinder, wie
früher meine beste Freundin, mein Bruder und ich: „Vater, Mutter.Kind.“ Die
Ich-Erzählerin gehört nicht zu ihnen. Der Satz steht in der 3. Pers. Pl.: „Sie
spielen Vater. Mutter.Kind.“ Diese Geschichte trägt den Titel „Camouflage“ und
in ihrem Zentrum stehen die Anstrengungen eines Mädchens, das „anders“ ist,
diese Andersartigkeit zu verbergen. Rollenspiele. Geschlechterrollen. Mädchen
sind Mütter. So war es bei uns nicht. Meine Freundin und ich waren abwechselnd
Vater oder Mutter. Im Spiel war der Tausch möglich. Im „richtigen“ Leben wollte
ich immer Mutter werden. Oder sein. Und wurde es. Mein Bruder hat diese Spiele
gehasst. Er wäre immer gern Vater gewesen und war uns zu klein dazu. Alle Spiele sind ernst. Zurichtungen. Vater. Mutter. Kind. Ich habe das gern
gespielt. Camouflage – wurde woanders nötig, wann anders. Ich lese nicht, um
mich selbst wiederzufinden, sondern um meine Fremdheit zu erfahren.
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