"Sie verhalten sich auffällig ruhig. Die Unmenschlichen."
R. räusperte sich. "Ich halte diesen Begriff für diskriminierend. Schon lange."
"Er ist beschreibend. Ihre eigenartigen Stoffwechselfunktionen, die Veränderungen der Haut bei einigen, die seltsamen Verkrümmungen der Extremitäten gewisser Exemplare..."
"Sie wurden als Menschen geboren. Wir erwarten von ihnen menschliche Reaktionen, andernfalls machte unser Experiment gar keinen Sinn. Ich wünschte, wir fänden eine andere Bezeichnung."
"Haben Sie einen Vorschlag?"
"Die Außergewöhnlichen?"
"Das klingt wie eine Auszeichnung. Wir müssen jedoch feststellen, dass ihre Veränderungen keineswegs vorteilhaft sind. Viel eher, deshalb sitzen wir ja hier, wurden wir auf erschreckende Weise mit ihrer sozialen Unverträglichkeit konfrontiert."
R. schwieg. Jedoch nicht, weil er überzeugt war.
Die Vorsitzende ließ es nicht auf sich beruhen. "Fahren Sie fort. Wir sollten uns keine Denkverbote auferlegen. Wir sollten in alle Richtungen offen sein."
R. setzte sich gerade: "Ich glaube, wir verwechseln unsere ...", er zögerte einen Augenblick, "unsere Probanden mit jenen, denen sie ausgeliefert sind. Die Unmenschlichen gibt es. Wir bekamen sie zu Gesicht. Erinnern Sie sich an den Besucher der M.?"
Man hätte eine Stecknadel fallen lassen können.
R. war jetzt nicht mehr zu bremsen:
"Sie alle erinnern sich. Diese Augen. Wir sahen es. Es wirkte. Sogar auf uns. Sogar über die Monitore."
Die Vorsitzende unterbrach ihn: "Ich bitte Sie, nicht von sich auf uns alle zu schließen. Ich nehme an, dass wir durchaus unterschiedlich reagierten."
"Wir hätten ihn abstechen sollen.", stieß die G. tonlos hervor. "Als wir ihn hatten."
"Wir hatten ihn nie.", stellte R. richtig. "Wir konnten ihn bloß sehen."
"Wir hätten ihn festhalten sollen. Sie hat recht. Wieso ließen wir ihn gehen?"
"Weil uns die Mittel fehlten."
Sie senkten die Köpfe. Manchmal ahnten sie, dass ihre Anstrengungen, dieses ganze komplexe und komplizierte Arrangement keinerlei praktischen Fortschritt brachte. Sie waren schlicht nicht dafür geschaffen, diese Auseinandersetzung zu führen.
"Es kommt nicht darauf an.", sagte die Vorsitzende als könne sie Gedanken lesen." Wir werden die Mittel schaffen, die wir noch nicht haben, wenn wir sie brauchen. Darauf vertraue ich. So sind wir beschaffen. Menschlich."Einige lächelten süffisant. Andere versuchten immerhin es zu verbergen. Der Respekt vor der Vorsitzenden nahm ab. Auch dieses Problem leugneten sie kollektiv. R.s Wut kochte erneut hoch.
"Wir lügen uns in die Tasche. Wir wollen nicht sehen, was mit uns geschieht. Dass es mit uns geschieht. Nicht nur mit denen in der Klinik. Die wir die Unmenschlichen nennen und selbst unmenschlich behandeln."
"Ich bitte Sie...."
R. redete weiter, schnell jetzt, er wollte sich das nicht mehr nehmen lassen, es musste ausgesprochen werden, komme dann, was wolle.
"Jede und jeder von uns hat es gefühlt. Wir fühlen es jedes Mal, wenn wir ihrer angesichtig werden. Wir lechzen nach diesen Bildern, die wir nur zum Schein mit Ruhe und wissenschaftlicher Neugier betrachten, während wir in Wahrheit alle vor Glück beben, sobald eine von ihnen in den Blickwinkel einer Kamera tritt."
Am Ende des Tisches wurde zaghaft gelacht.
"Jetzt versteigt er sich aber wirklich."
"Sie wissen es. Ich weiß es. Was uns wirklich hier zusammen treibt, warum wir alle Hebel in Bewegung setzen, um bei dieser Truppe zu bleiben. Mit welchen Tricks wir geplante Versetzungen bekämpfen. Warum? Warum?"
"Ja. Sagen Sie es uns." "Genau. Wenn Sie es wissen..." "Was Sie sich einbilden..."
Der Hass, der R. entgegenschlug, wurde beinahe handgreiflich.
"Weil sie so", R. machte eine Pause, "weil sie so anziehend sind."
Wieder versuchten einige zu lachen. "Ach so: Anziehend." "Attraktive Biester."
R. schaute sich um: "Geben Sie es zu. Geben Sie es alle zu. Wie Sie denen verfallen sind. Wie die Härchen auf Ihrer Haut sich aufstellen, wenn das Gesicht der M. oder der B. oder des G. auf den Monitoren erscheinen, wie ihnen das Blut zu Kopf steigt und in den Schoß zu stürzen scheint, wenn sie sich vorbeugen, wenn sie sich über den Boden wälzen, wenn sie sich an der Wand reiben. Wie ihre Brustwarzen sich härten und die Hitze in ihren Eingeweiden zunimmt, wie sie ihre Schenkel aneinander drücken und ihre Hintern zusammenkneifen, wenn sie nach einer solchen Sitzung nach Hause fahren und wie sie dort über ihre Partnerin oder ihren Partner herfallen, jedes Mal wieder, oder wenn sie, wie ich übrigens, alleine sind, sich selbst Erleichterung verschaffen. Gestehen Sie es doch."
Wieder war es still. Einige schlossen die Augen. Manche fuhren sich mit der Zunge über die Lippen. Die Vorsitzende atmete tief durch.
"Lassen Sie es uns gemeinsam sagen: Wir gestehen es."
Sie fassten sich an den Händen und sprachen im Chor:
"WIR GESTEHEN ES."
Die Vorsitzende schloss die Sitzung. Sie war zufrieden.
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KRYPTOZOOLOGISCHE ORDNUNGEN (Zum Gesamt -Aufbau des Erzählwerks über die Fabelwesen)
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