Mein
Hochschullehrer Günter Oesterle, selbst ein evangelischer Schwabe, wies uns
immer wieder daraufhin, wieviel vom „deutschen Geiste“, vom gepriesenen
Dichter- und Denkertum, aus dem Dunstkreis des schwäbischen evangelischen
Pfarrerhauses, aus der Tradition des Pietismus komme: Hölderlin, Hegel,
Schelling und die beiden Schlegels waren nur die prominentesten, die er nannte.
Der Einfluss des Pietismus auf den deutschen Idealismus ist unumstritten, wenn
er auch heutzutage nur noch selten
Gegenstand der Reflexion und Kritik ist.
Als
Erziehungsmodus „genießt“ der Pietismus indes inzwischen – entgegen dem Stolz
des hochschullehrenden Schwaben Oesterle auf die heimatlichen Geistesgrößen – den
denkbar schlechtesten Ruf. Pietismus steht für Zwang, Selbstbeschuldigung,
Angst und Unterdrückung. In der Literatur und Kunst wimmelt es von Opfern
pietistischer Erziehungsweise, die sich in Selbsthass und Selbsterniedrigung
zerfleischen. Über dieser – berechtigten – Kritik am Pietismus ist dagegen in
Vergessenheit geraten, wie sehr diese religiöse Bewegung über die Einzelnen
hinaus das kulturelle und gesellschaftliche Leben geprägt hat im Versuch, so zu
leben, „dass sich das Christentum im täglichen Leben auswirkt, dass es ethisch
umgesetzt wird.“ Die verschiedenen pietistischen Strömung eint, so Markert,
dieses Kennzeichen: „Der Glaube soll das Alltagsleben durchdringen.“
Der
Pietismus wird allzu häufig gleichgesetzt mit den pietistischen Texten, ganz
entgegen seiner erklärten Absicht, „die Schrift“ lebendig zu machen, „die
Wahrheit“ zu leben. Selten wurde und wird in der Forschung über den Pietismus die
Frage nach den Erfahrungen derjenigen gestellt, die pietistisch geprägt
aufwuchsen, danach wie sie selbst ihre kindliche Umgebung und deren Wirkungen auf ihr
Leben als Erwachsene beschreiben. Dorothee Markert geht in ihrem Buch „Lebenslänglich besser. Unser verdrängtes pietistisches Erbe“ genau dieser Frage nach.
Mich
hat Markerts Buch auch aus persönlichen Gründen interessiert. Als Jugendliche
hatte ich den Impuls mich scharf von meinem „frommen Umfeld“ zu distanzieren,
dessen Lebenshaltung mir eng und beengend, freudlos und lustfeindlich erschien.
Heute dagegen schaue ich mit einem versöhnlicheren Blick zurück, in den ich
auch aufzunehmen versuche, was mir die pietistisch geprägte Erziehung an
Positivem und Bewahrenswertem mitgegeben hat.
Dorothee
Markert nähert sich dem pietistischen Erbe in ihrem Buch durch Interviews mit Männern und
Frauen, die pietistisch erzogen wurden. Dabei zeigt sich eine durchaus differenzierte und ambivalente
Haltung der Interviewten zu ihrer pietistischen Prägung. Einerseits wird die
Enge und Beschränkung beklagt und mehr noch die Selbstbeschädigung durch den
dauernden Zwang zum Urteilen über sich und andere, andererseits heben viele
Befragte positiv das erlebte Gemeinschaftsgefühl, die praktizierte Nächstenliebe
und den Zusammenhang zwischen Glauben und Lebenspraxis hervor.
Die
Ambivalenz des pietistischen Erbes zwischen dem Zwang zum „Schaffen“ und der
Erfahrung sinnerfüllter Arbeit, zwischen religiösem Wahn und utopischem Gehalt
des Glaubens, zwischen grundsätzlich positivem Menschenbild und Selbstunterdrückung
wird in den folgenden Kapiteln von Markert herausgearbeitet. Sie zeigt, dass
der Pietismus ursprünglich keineswegs im Gegensatz zur Aufklärung stand. Deren
zur Hybris gewordenen Streben nach Autonomie vermochte die pietistische Prägung
immer schon das Bewusstsein von der existenziellen Abhängigkeit und Bedürftigkeit
jedes Menschen entgegenzusetzen. Beide, Aufklärung und Pietismus, tragen in
sich den Keim zum Fundamentalismus, zeigt Markert. Sich wieder aufeinander zu
beziehen, statt zueinander in Frontstellung zu gehen, könnte beide vor dieser
Tendenz bewahren.
Ich
habe bei der Lektüre dieses Buches häufig an Verwandte denken müssen, deren
Denken mir als junge Frau so engstirnig erschien. Gleichzeitig habe ich erlebt,
wie diese Menschen in jedem und jeder, die ihnen begegneten, ein „Geschöpf
Gottes“ erkennen und annehmen konnten. Dorothea Markert schreibt: „Für mich heißt das, dass ich Ausschau halte
nach dem ´Begehren´ dieses mir fremden Menschen, also nach seinen oder ihren
Visionen, Sehnsüchten und Herzenswünschen, nach dem, was hinter seinem oder
ihrem Engagement steht. Auch wenn ich mit bestimmten Inhalten und Zielen überhaupt
nicht einverstanden bin, kann ich bei dieser Suche nach ´dahinter´ meistens
etwas finden, das mich mit diesem Menschen verbindet. Es ist leichter, etwas über
das ´Dahinterliegende´
herauszufinden, wenn wir über konkrete Situationen sprechen, uns
Geschichten gelebten Lebens erzählen, als wenn wir uns nur über das
austauschen, was wir wissen oder zu wissen glauben.“ Ein Austausch, der
sich auf das „nur“ beschränkt, auf Wissen, die Positionen, die „Argumente“ bleibt meist unfruchtbar oder kommt erst gar nicht zustande. Erst über die
Geschichten kann Verbindung zum Fremden aufgenommen werden. Auch im Umgang mit
dem Pietismus also geht es um „disfieri“, um das Aufziehen der Maschen, darum
nicht zu verdammen und sich abzugrenzen, sondern sich die Gehalte neu zu
erschließen, in – wie Markert formuliert - der „früheren Breite und Vielfalt der pietistischen
Bewegung“.
Danke! Habs bestellt.
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