Im
Zentrum dieses Coming-of-Age-Romans steht ein Mord, den zwei 14jährige, die
Ich-Erzählerin Nini und ihre beste Freundin Jameelah, eines Nachts auf dem
Spielplatz eines Sozialbausiedlung in Berlin beobachten. Nini und Jameelah sind
zwei abgebrühte Großstadteenager, die sich regelmäßig bei Penny mit den Zutaten
für ihr Lieblingsgetränk, das dem Roman den Namen gibt, eindecken: Mariacron,
Maracujasaft und Milch. In einem Becher Müllermilch, der ausgeleert wird, rührt
Jameelah mit dem Finger diese Mischung zusammen, bevor die beiden Freundinnen
ihrer Langeweile mit einem Ausflug auf den Strich am Kurfürstendamm begegnen,
wo sie Freier aufreißen, „Nuttentricks“
lernen, wie ein Kondom mit dem Mund überzustreifen, und sich gemeinsam auf das „echte“
erste Mal vorzubereiten versuchen: „Man
kann etwas lernen von diesen Männern, Jameelah meint, es ist, wie wenn man
Medizin studiert. Zuerst schneidet man Frösche auf, dann Tote und erst am Ende
richtige lebende Menschen, so macht man das im Studium. Wir müssen üben, für später,
für das echte Leben, irgendwann mal müssen wir ja wissen, wie alles geht. Wir müssen
wissen, wie alles geht, damit uns keiner was kann.“ Auch in dieser Welt, in
Ninis und Jameelahs keineswegs behüteter Teenager-Welt, wo Alkoholismus,
Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung, traumatische Flucht- und Kriegserinnerungen
und die ständige Angst vor Abschiebung herrschen, gehört Mord jedoch nicht zum
Alltag. Die Beobachtung erschüttert das Selbstverständnis und die Freundschaft
der beiden Mädchen.
Stefanie
de Valesco erzählt in ihrem Debüt-Roman die Geschichte der beiden Mädchen in
einem Ton, der genau die Mischung aus rotznäsigem, brutalem Sarkasmus und
sehnsuchtsgetränkter Naivität trifft, mit der sie ihre beiden Protagonistinnen
ausstattet. Die Welt der Teenager zwischen sozialem Brennpunkt, Abhängen
am „Planeten“ und Trips zum Strich an der Kurfürstenstraße, unter verrohten und
abgestumpften Erwachsenen, die von ihren eigenen Problemen überfordert sind und
dem Versuch, sich kindliche Freundschaft und Treue in diesem Chaos zu bewahren,
wird wirklichkeitsgetreu dargestellt. Dennoch ist das kein realistischer
Roman, denn de Valesco erzählt diese Geschichte auch aus der Perspektive jener
phantastischen Gegenwelt, die sich Nini und Jameelah schaffen, mit und durch
die Sprache.
Die
Mädchen sind Träumerinnen, Wort(er)finderinnen und Geschichtenerzählerinnen: „Tigermilchtage. Tigermilchtage?
Tigermilchtage und Nächte, Nage und Tächte. Jameelah liebt es Buchstaben zu
vertauschen, Wörterknacken nennt sie das. Aus Luft macht sie Lust, aus Nacht
nackt, Lustballons, Nacktschicht, Lustschutzkeller mit Nacktwächtern. Wir
sprechen außerdem O-Sprache, Geld ist Gold, mit Filter drehen gibt’s nicht,
nur mit Folter drohen. Ich dachte früher immer, Teenager sind Leute, die Tee
nagen, du auch?“
Doch
nachdem sie Zeuginnen des Mordes geworden sind, stehen Nini und Jameelah vor
Loyalitätsproblemen. Ein Kindheitsfreund nimmt die Schuld aus familiärer
Solidarität auf sich und deckt den Mörder. Nini fühlt sich verpflichtet, die
Wahrheit aufzudecken, Jameelah, die Angst hat, in den Irak abgeschoben zu
werden und nichts mehr ersehnt, als bei einem „Kartoffelfest“ die deutsche Staatbürgerschaft zu feiern, will sich aus allem raushalten. Die
Fluchtwege in die gemeinsamen Traumwelten und auf die Abenteuerspielplätze der
Großstadt scheinen plötzlich versperrt. Die Tristesse, die Schäbigkeit, der
Ekel treten nun überdimensional hervor: „Jemand
hat mit seinen fettigen Haaren an der Fensterscheibe einen Abdruck
hinterlassen. Nichts ist ekliger als Fetthaarflecken im Bus oder in der Bahn.
Es ist eine andere Form des Hinscheißens, finde ich, nur das Schlechte eines
Menschen bleibt zurück.“
Es
kann vor dem realistischen Hintergrund dieser Geschichte kein Happy End für die beiden Mädchen
geben, das ist klar. Was sie miteinander den Verhängnissen der Wirklichkeit als
eigene Wörtertraumweltphantasien entgegenstellt hatten, kann keine von ihnen
allein zur Erscheinung bringen. Die Freundinnen vergeben sich zuletzt, was jede als
Verrat der anderen empfunden hat. Das Kartoffelfest findet als Fake statt, als freudloses
Pommesfressen am Flughafen, von wo Jameelah mit ihrer Mutter abgeschoben wird: „Scheiß auf Deutschland, sage ich, was ist
das für ein Land, wo sie Menschen einfach so wegschicken? Hör auf, sagt
Jameelah, es gibt so viele gute Dinge in Deutschland. Was denn? Weiß nicht,
alles Mögliche. Siehst du. Jetzt fällt dir nichts sein. Doch. Zum Beispiel, dass
draußen vor den Geschäften im Sommer immer Wasser für die Hunde steht. Du
spinnst ja, sage ich. Doch, sagt Jameelah, gerade so was Normales, so was
bescheuert Normales wie Wasser für Hunde, das macht das Leben aus.“
Es
ist eine verfaulte Welt, weiß Nini am Ende, in der gar nichts heilt. Sie ist allein und erinnert sich an die
Erfindung der O-Sprache: „Ich weiß nicht,
wann und warum wir angefangen haben, O-Sprache zu sprechen, ich weiß nicht,
warum wir ausgerechnet auf die Kurfürsten kamen und auf die Typen da, ich weiß
das alles nicht, ich weiß nur, dass wir immer dachten, dass niemals etwas
schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht allein gehen,
nirgendwohin allein.“ Jetzt erst ist alles real geworden.
Stefanie
de Velascos Roman „Tigermilch“, so stand in manchen Rezensionen zu lesen, sei
das weibliche Pendant zu Wolfgang Herrndorfs „Tschick“. Der Vergleich hinkt,
wie die meisten Vergleiche. „Tschick“ und „Tigermilch“ haben wenig gemeinsam,
außer dass beide Romane, in jenem Sinne des Wortes, den Herrndorf meinte, wenn er von seinen eigenen literarischen Ansprüchen sprach, Unterhaltungsliteratur sind. Auch "Tigermilch" ist ein solches Buch, das eine "kalt erwischt": Rasant, spöttisch, wütend, zart und rührend.
Kindle Edition € 14,99
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