Samstag, 28. Dezember 2013

IO SONO LI. Die Macht und das Andere


Worum geht es, wenn das Kino von der Mafia und ihren Geschäften erzählt? Um den Boss und seine potentiellen Nachfolger und/oder Konkurrenten, um die Kämpfe um Macht, Geld und Frauen (in dieser Reihenfolge), um die Ähnlichkeit zwischen den Männern, die die Macht wollen und um die Gewalt, mit der sie andere vernichten und sich selbst zerstören. Tragische Dramen um schuldbehaftete Könige, antiken Vorbildern nachempfunden. Oder die Revolte des (Zieh-)Sohnes gegen den Vater. Das ist das Spiel, das gespielt wird. Die Story um die Mafia erzählt immer auch vom Kapitalismus und seinen Strukturen, davon wie Geld "gemacht" und verteilt wird, wie Konkurrenten einander bekriegen, ablösen, vernichten. Wie Geld und Gewalt die Macht konstituieren. Und davon, dass es nichts Anderes gibt und kein Entkommen. Die Strukturen sind stärker als die Einzelnen und darin liegt die Tragik auch für den Sieger, wenn er sich das Blut von den Fäusten wischt oder die Waffe einsteckt. Was die Siege dieses Spiels um die Macht kosten, davon können die Filme über die Mafia in kräftigeren Bildern erzählen als Wall Street, nämlich mit viel rotem Blut auf weißen Hemden und schön choreographierten Schläger- oder Schießereien. In den oberen Etagen der Konzerne und Banken wird dasselbe Spiel gespielt, nur ist es langweiliger anzuschauen. Das ist die Story und jede Kinogängerin hat sie schon tausendmal gesehen. Großartig inszeniert oder zum x-ten Mal stereotyp nacherzählt. 

Der Film "Io sono Li" (deutscher Titel: Venezianische Freundschaft) erzählt vom Menschenhandel durch die chinesische Mafia, von Gewalt und Unterdrückung, von Angst und Unterwerfung. Aber es fließt nur ein einziges Mal ganz wenig Blut. Und damit hat die Mafia nicht einmal etwas zu tun. Es wird nicht gekeucht und nicht herum geballert, um keine schöne Frau wie um eine Trophäe gekämpft und niemand von der Spitze der "Organisation" abgelöst. Die Macht wird nicht angegriffen, keiner der Protagonisten dieses Films will sie haben, geschweige denn um sie kämpfen. Selbstverständlich: Dieses Spiel läuft. Es gibt kein Entkommen. Aber es gibt ein anderes Spiel auf demselben Spielfeld. Die Macht ist nicht alles. Es gibt etwas Anderes

Shun Li, eine junge Chinesin näht in Italien in einem der vielen Sweat Shops für die chinesische Mafia, in der Hoffnung, dass diese eines Tages, wenn sie ihre "Schulden" abgearbeitet hat, ihren achtjährigen Sohn nachkommen lassen wird, der in China zurückbleiben musste. Weil Shun Li fleißig, zuverlässig und gehorsam ist, wird sie "versetzt", um in einer kleinen Bar im Hafen von Chioggia zu arbeiten, die die Mafia kürzlich erworben hat. In dieser Bar verkehren vor allem Fischer aus dem Hafen, die hier einen Kaffee mit Schuss bestellen oder Schnaps, um sich vor der Ausfahrt zu wärmen oder nach der Rückkehr ein bisschen miteinander zu lästern und tratschen. Einer von ihnen ist Bepi, der schon dreißig Jahre in Chioggia lebt, aber sich Immer noch nicht heimisch fühlt. "Ich bin auch Ausländer.", verteidigt er sich einmal gegenüber seinem Kumpel Coppe, als dieser ihn über seine Freundschaft mit Shun Li ausfragen will. Denn davon erzählt der Film in Wahrheit: Von der nur auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Freundschaft zwischen der jungen chinesischen Mutter und dem alternden jugoslawischen Fischer. 

Der Film von Andrea Segre stellt uns Shun Li von Anfang an nicht als bloßes Opfer der chinesischen Mafia, sondern als eine Frau mit Hoffnungen, Träumen, Liebhabereien dar. Er zeigt, wie sie zur Erinnerung an einen antiken chinesischen Dichter rote Lichterblumen in einer Badewanne der überfüllten Unterkunft der Textilarbeiterinnen schwimmen lässt. Einer der Männer kommt ohne Anzuklopfen herein, als sie, den über das Wasser gleitenden Lichtern zuschauend, ein Gedicht rezitiert und pinkelt stehend ins Klobecken. Diese  kleine Szene zeigt auf sehr eindrucksvolle Weise beides zugleich: Das Andere, das sie sich bewahrt und die Gewalt, der sie ausgesetzt ist. Shun Li wird nicht geschlagen und herumgeschubst. Die Macht, die ihre Bosse über sie haben, wird von Andrea Segre sehr viel subtiler dargestellt, spiegelt sich zum Beispiel im Gesicht der großartigen Schauspielerin Zhao Tao, als ihr verkündet wird, dass sie die Freundschaft mit Bepi (Rade Serbedzija) beenden muss, wenn sie ihren Sohn wiedersehen will. Shun Li und Bepi haben - entgegen dem ersten Eindruck - vieles gemeinsam: Sie sind einsam und fühlen sich fremd in Italien, sie lieben die Poesie und das Meer. Auch Shun Li stammt aus einer Fischerfamilie. 

Es gibt selbstverständlich kein Entkommen. Shun Li wird noch einmal zwangsversetzt. Bepi stirbt in Mestre bei seinem Sohn, fern vom Meer und seiner Fischerhütte. Aber es gibt die Erinnerung und die Bilder, die die Macht der Mafia nicht zerstören kann: das Licht über der Lagune, den Himmel, das träge Wasser in den Gassen, die Schönheit eines Lächelns, ein Hüpfen, wenn die nackten Füße die Wellen berühren, die an den Strand schwappen. Die Freundschaft. Die Liebe. "Io sono Li." Ich bin Li, heißt das. Oder auch: Ich bin da. Dieser Film zeigt diese Momente des Da-Seins, die die Macht nicht verhindern und nicht zerstören kann. Die Mafia nicht. Und der Kapitalismus nicht. Und er zeigt Menschen, die nicht um die Macht kämpfen. Oder das Geld. Sondern sich diese Momente schaffen. Die sich und das Andere behaupten: IO SONO LI.

Dieser wunderbare Film von 2011 schafft es erst jetzt in die deutschen Kinos. Aber nun ist der DA. Versuchen Sie, ihn zu sehen, wenn Sie können!

Venezianische Freundschaft von Andrea Segre, 2011 

(Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Betreiber_innen des Frankfurter Kinos Mal seh´n einen Dank aussprechen, die seit so vielen Jahren dafür sorgen, dass auch in der Mini-Großstadt Frankfurt gelegentlich europäische und nichteuropäische Filme jenseits des Mainstreams - und im Original! - zu sehen sind.)

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