Dienstag, 19. August 2014

SELFIE-PARADE mit Schwermut

Schwierige Tage: Ein sonderbarer Schmerz unter der Achsel, den sie lieber ignoriert, als sich der Angst zu stellen. Nur dass das Ignorieren immer schlechter gelingt. Sie will sich Träume erzeugen, die den Schmerz betäuben: ein Haus am Meer, das Geräusch der Wellen, die gegen den Strand plätschern, ein weiter Horizont. Sie ist zu müde und zu verstört, um originelle Träume zu produzieren. Diese Erschöpfung, wenn sie zweimal die Treppe hinauf und hinunter läuft. Wäscheberge türmen sich, seit sie wieder einmal zu viert leben. Truhen und Schränke sollen leerer werden, bevor der Umzug naht.

Soviel Bettwäsche hat sich angesammelt über die Jahre. Sie bindet drei Säcke mit Textilien zusammen, die kommen morgen in den Container. Im Treppenhaus findet sie im Einbauschrank Spielebücher und Schatzkisten, kaputte Teleskope und Gimmicks,  aber auch Briefumschläge und Kartons vollgestopft mit alten Fotos. Wer war die Frau, die so konzentriert in die Kamera schaut, mit dem fast schwarzen, kurzen struppigen Haar? In der Ecke links hängt Wittgenstein über dem Sofa. So waren wir damals. Wir? Lasen weiße Männer. Fast ausschließlich. Damals glaubte sie dran, das verstehen zu müssen. Bevor - was? Ließ sich täuschen und hielt sich für "mitgemeint". Sie wollte - ein letztes Mal - dazu gehören und dieses "Dazu" waren die, die sich über und mit Kant, Hegel, Heidegger, Foucault, Derrida, Luhmann etc.pp. bzw. Joyce, Th. Mann, Kafka, Walser, Bernhardt, A. Schmidt und so verständigten. Außerdem, selbstverständlich: vier- oder mehrköpfig Boygroups. Indie Pop. Punk. Usw. Alle liebten außerdem "die Bachmann" und manche Susan Sontag. Frauen, die sich beim Mitspielversuch anstrengten und außerdem fotogen waren. Sie anerkannte blindlings Autoritäten, die sich durch je neue Generationen junger, weißer Männer, die die Wahrheit (Sgl.) suchten und "das System" kritisierten, zu universalen aufplustern ließen. Das war einmal. Sie kennt diese Frau nicht mehr, die ein Mädchen war. 

Sie erinnert sich kaum mehr an deren Anstrengungen und schämt sich ein wenig dafür, wie gleichgültig die ihr geworden ist. Dennoch weiß sie, dass die schon etwas hatte und mitbrachte, was sie der Falle entkommen ließ, auch wenn sie es damals noch nicht auszuspielen verstand. Seither hat sie viele beobachtet, Väter-Töchter, die sich wieder und wieder in der Falle verheddern, die schon der erste Mann für sie aufgestellt hatte. So einer war der ihre, ihr Vater, nicht und nie gewesen. Der hat sich für sie interessiert, nicht für den Eindruck, der sich mit ihr machen ließ. Der war keiner, der die Tochter stolz als einen Besitz vorführte, schön und geschmeidig mit Augenaufschlag zum Vaterstolz. So ein Besuchsvater eben, der nie da ist, selbst wenn er da ist, aber alle Macht für sich abonniert, der die Mutter seit je demütigt und erniedrigt, aber die Tochter auf ein Söckelchen stellt, ihm zur Zierde und zum Triumph. So ein autoritärer, charmanter Drecksack, den eine Mutter, steckte sie nicht selbst tief in der Falle, aus der Wohnung und dem Leben längst schon hätte schmeißen müssen, aber es nie geschafft, so einen hatte sie nicht gehabt. Das kann eine gar nicht als Glücksfall überschätzen. Schlimmer geht´s freilich immer. Sie kennt auch Töchter, die von ihren Vätern oder Vaterersätzen wahrhaftig sexuell missbraucht wurden. Es fängt jedoch vor dem schon an: Das perverse Verhältnis der Geschlechter, wo eine getrimmt wird, zu gefallen und sich dem lustvoll unterwirft. So gelingt der Einstieg in die nur scheinbar selbstgewählte Prostitution, in der sich der Wert des Mädchens schon, das zur Frau dann wird, in ihren eigenen Augen ausschließlich bestimmt durch die Bewunderung des Mannes, der erst der Vater ist und später dem immer wieder gleichen soll. Der "Vater-Komplex" so mancher Tochter muss sich nicht zwingend auf eine älteren Mann richten. Es kann einer reichen, für eine Weile zumindest, der sich genug aufpumpt und wertet. Eine banale  und gewöhnliche Tragödie ist das, deren Nachhall noch am koketten Gezwitscher mancher über 70jährigen abzuhören ist, die es nicht lassen kann, sich vor jedem männlichen Blick, dessen Besitzer mit der Autorität des Geldes, der Macht, der Gewalt oder des Einflusses ausgestattet ist, zu produzieren. Kaum dass so einer auftaucht, werden der alle anderen Frauen, die nicht ganz aus dem gängigen Schönheitsideal fallen, zur Konkurrenz. Das bleibt traurig und ist einer der Ursachen jener steten, so schwer zu durchbrechenden Komplizenschaft mancher Frauen mit dem Patriarchat.


Ein anderes Foto zeigt sie Jahre später zwischen ihren Söhnen. Die Haare sind etwas länger nun und kastanienbraun gefärbt. Was weiß sie noch über die zu sagen? Sie war gewichtiger und müde, erinnert sie. Sie fügte sich ein und gab sich Mühe. In jener Zeit blühten im Garten die Stauden üppiger. Sie buk zu Weihnachten Nikolaus-Amerikaner mit Spekulatius-Gewürz und kaufte Muffins-Formen. Das Foto, weiß sie, entstand am Bodensee. War sie glücklich? Es blieb wahrscheinlich wenig Zeit, sich das zu fragen. In einem Leben mit Kindern, sagte sie das nicht neulich noch zu Morel, stellt sich die Sinn-Frage irgendwann nicht mehr. 

Dass auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis auch in diesem Jahr kaum weibliche Autorinnen auftauchen, ärgert sie indes kaum noch. (Dana Buchzik hat´s auch bemerkt und in der WELT drüber geschrieben: Hier.) Neulich hat sie irgendwo in einem Blog die Klage eines männlichen Krimi-Autors gelesen, dass die Krimi-Szene von weiblichen Autorinnen, die langweilige Wohlfühl-Stories mit Lokalkolorit schrieben, dominiert werde. Auch die Amazon-Ebook-Bestseller-Liste wird von Autorinnen angeführt. Das nervt offensichtlich. Dummerweise lesen ja auch viel mehr Frauen viel mehr als wenige Männer weniger lesen. Auf die monatlichen Krimi-Empfehlungen in der ZEIT dagegen kann sich der arme Blogger in seiner gefühlten Notdurft jederzeit verlassen, denn seit sie die verfolgt, hält sich dort stetig eine Quote von 8 männlichen zu 2 weiblichen Autor_innen. E-Literatur (hihi) hingegen ist und bleibt weiß und männlich, mit nur ein ganz bisserl weiblichen Farbtupfern fürs Auge und den Hosenschlitz zwischen drin. Qualität halt. Grade so sieht´s in der Philosophie, in den sogenannten Wissenschaften und Vorstandsetagen aus. Auch ein Blick ins Kinoprogramm hebt die Stimmungslage nicht. Finde mal einen Film, der den umgekehrten Bechdle-Test nicht besteht (mindestens 2 Männer, die einen Namen haben, und sich über was anderes als Frauen unterhalten). "Männer zeigen Filme und Frauen Brüste". 

Heute morgen im Feed-Reader ein Bericht von VICE darüber, dass viele Menschen zusammengekommen seien, um vor der Berliner Moschee, die möglicherweise einem Brandanschlag zum Opfer gefallen ist, zu beten. Auf den Bildern und im Texte zeigte sich dann, dass diese Menschen offenbar ausschließlich Männer waren. Keine Frau war zu sehen oder kam zu Wort. So ist das eben. Wenn Männer über Männer reden, geht es um Menschen oder gar um die Menschheit. 

Wenn Frauen zusammenkommen und keine Männer anwesend sind, wird zweifellos erwähnt, dass es sich um eine Frauenveranstaltung handelt. Wenn Frauen über Frauen schreiben wird es "Frauenliteratur". Wenn Männer Fußball spielen ist es Fußball und wenn Frauen spielen, ist es Frauenfußball. Und so weiter.  Aber selbstverständlich geht es überall und immer um Qualität (und/oder Wahrheit). Es wahrzunehmen, ändert noch nicht viel. Sprache hilft ein bisschen: Nenn einfach  Männer-Sachen Männer-Sachen, sagt sie sich immer öfter. Männer-Fußball. Männer-Filme. Männer-Literatur. Gibt´s viel davon. Ist nicht alles schlecht. Interessiert nun aber nur noch bedingt. Hat nur begrenzte Autorität. Oder keine. Insbesondere wenn die Männer-Sache vom Männer-Autor/-Macher/-Spieler nicht als Männer-Sache verstanden wird, sondern als menschlich/universal (siehe oben). 

Die (eigene) Welt sieht dagegen schnell schon ganz anders aus, wenn von zehn Büchern, die eine liest, nur zwei von Männern geschrieben wurden, wenn sie sich mehr mit Teresa von Avila beschäftigt als mit Thomas von Aquin, wenn sie öfter Ani DiFranco hört als Morrissey und vor allem wenn sie die Autorität der autoritären weißen Männer, weder der jungen noch der alten, weder der toten noch der lebenden, nicht mehr anerkennt. Wenn sie deren Urteile für Meinungen hält, an denen nicht selten besonders starrsinnig festgehalten wird, weil noch der schärfste Systemkritiker doch seinen Anteil an der patriarchalen Dividende nicht preisgeben mag. Sie ärgert sich immer seltener. Die junge Frau, die sie mal war, wollte mitspielen. Die Mutter, die sie wurde, hatte was Wichtigeres zu tun. Die sie jetzt ist, will sich mit dem beschäftigen, was für sie Autorität hat. 

Sie hat sich derweil festgelesen bei Martha Nussbaum. Widerspruch fast zu jeder Seite. Zwischendurch blättert sie bei Luisa Muraro. Wie geht das zusammen? Immer noch: Was Freiheit sei, Macht, Stärke und Gewalt, Gemeinschaft, Staat. Unschlüssig. Die Schmerzen lassen auch nicht nach. Will sie sich jetzt etwa mit Denken betäuben? Ein sehr "männliches" Konzept, scheint ihr, das wenig taugt. Sie versucht es lieber doch noch einmal mit Träumen. Eine Zeichnung über den Dächern einer Wüstenstadt. Der Himmel blutet sich aus. Wie tief können Engel fallen? Sie sehnt eine Religion herbei, die den Zweifel anbetet und eine Gemeinschaft, die der Bedürftigkeit huldigt. Sie lässt den Traumsand durch ihre Hände rieseln.

(Welchen Grund hat sie, heute kein Ich zu setzen? Ich weiß es nicht.)


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