Der Berg. Ruft. Oder gibt
eine Kulisse ab. Mehr nicht. La Montaigne St. Victoire – auch für Cezanne in
seinen frühen Jahren vor allem ein Hintergrund. Die Aixer schätzten den Sohn
eines Bankiers als Maler gering, der „mit einem Apfel Paris“ zu erobern
gedachte. Man kann ihnen das nicht verdenken. Er war ein Feigling, offenbar,
ausgehalten vom Vater, der ein so schlimmer Tyrann, wie ihn sich das Klischee
ausmalen mag, wohl nicht gewesen ist; immerhin ließ er den Sohn die Wände der
Familienvilla Bastide Jas du Bouffan mit Fresken verzieren und baute ihm im
Dachgeschoss ein Atelier aus. Ein Missverständnis allerdings, denn der Sohn
stand ja gerade für eine Malerie, die „unmittelbar“ den Eindruck der Natur wiederzugeben
trachtete (Ich setze kursiv, woran ich nicht glaube.) Cezannes Bedeutung für
die moderne Malerei ist kaum zu bestreiten. Vielleicht äußert sich in seiner
Person, seinem Lebensentwurf aber auch schon das tiefe Verhängnis dieser Kunst-
und Künstlerleben-Ideologie: die Abhängigkeit von väterlichen „Mäzen“, dem das
eigene Bohéme-Leben zu verbergen oder zu idealisieren ist, die vorgebliche Abneigung
gegen den Markt und seine Mechanismen bei gleichzeitiger vollständiger
Angewiesenheit auf dessen monetären „Abfall“, die Überhöhung des
Unverantwortlichen und der Einsamkeit als Ausdruck „wahrhaftigen“
Künstlertums. Großartige Farben, Landschaft der Empfindung, Widerstand gegen
die Diktatur der verhängisvollen Realität.
Im Familiensommerlandsitz vor der Stadt, heute eingepresst in ein ödes
Vorstadtviertel, vermittelt uns der tapfere Abgesandte des Touristenbüros einen Einblick in die Modernität Cezannes, der Schritt für Schritt, wie die
laminierten Schautafeln zeigen, mit dem Klassizismus brach. Viel mehr als
Verfall ist hier allerdings nicht zu besichtigen. Die Apologeten desselben wird gerade das
erfreuen. Wir fühlen uns ein wenig geleimt: Die „Ausstellung“ besteht in einem
Film über die Geschichte des Hauses, der im Erdgeschoss in einem schäbigen,
verdunkelten Raum gezeigt wird. Der Rest des Hauses ist gesperrt. Ein wenig
mehr bietet der Garten; der Pool mit Delphin und Löwen, die Cezanne Motive waren, ist
noch erhalten. Es gibt Pläne für das verfallene Haus im vernachlässigten
Garten. Doch, wie unser Führer es ausdrückt: Im Süden geht es langsam. Das kann
dauern. Der Tourismus in Aix setzt auf den berühmtesten Sohn der Stadt,
auf Cezanne, hat aber wenig von ihm zu bieten. Im Museé Grandet, benannt nach dem
gutaussehenden und zu Lebzeiten geschätzteren Konkurrenten, hängen nur neun
Gemälde des von den Touristen vergötterten Malers, die man sich noch dazu von woanders
her ausgeliehen hat. Dafür kann die Besucherin feststellen, dass auch Cezannes
Vorgänger die Gestalt des Berges nutzten, als Hintergrund und als Kulisse. Selbst Künstler müssen nicht besessen sein.
Aix, so behaupten zwei von
drei Reiseführern, ist der Traumort der Franzosen. Hier wollten sie leben, so
sie die Wahl hätten. Morel und mir bleibt es vor allem ein Verkehrschaosknotenpunkt.
Schöner fanden wir Arles, die alte Römermetropole, wo just zum Zeitpunkt
unseres Besuches die „Recontres Internationales de la Photographie“
stattfanden, eine Dokumenta der fotographischen Kunst, vielseitig, spannend, zu
viel für einen eintätigen Aufenthalt. Wir versuchten das Beste daraus zu machen
und besuchten immerhin 10 der 40 Spielstätten.
Gleich zu Beginn, auf der
Place du Republique verstört und begeistert uns eine hervorragende Ausstellung
des Lebenswerkes von Don McCullin. Berühmt ist er, vor allem im
angelsächsischen Raum, für seine Kriegsfotografien. Die Ausstellung zeigt aber
auch, mit welcher Intensität er die Landschaften seiner englischen Heimat
einzufangen wusste.
In der Espace van Gogh, gelb
und blau gestrichen immer noch wie in den Gemälden des verstörten Malers,
findet sich eine faszinierende Werkschau von Sid Grossman, dem großen
amerikanischen Fotografen, dessen Werke zum ersten Mal in solcher Breite in
Europa gezeigt werden. Seine Straßenbilder von New York aus den 40er und 50er
Jahren werden ein Stockwerk darüber konfrontiert mit einem Projekt des irischen
Fotografen Eamonn Boyle, das technisch brillante Fotografien von Passanten vor
Boyles Dubliner Haus zeigt. Die Motive vermeintlicher Straßen-„Schnappschüsse“
Grossmans verändern sich in der Ära des Mobilphones unter Eamonn Boyle in
stilisierte, scharfkantige Aufnahmen, die ihre Protagonisten in Skulpturen der
Großstadt verwandeln, die ewige Bewegung zum Stillstand bringen, um ihr Würde zurück zu verleihen. Und darin liegt dann vielleicht auch die
Gemeinsamkeit des Ansatzes: mit den Mitteln der Kunst in den „alltäglichen“
Menschen und ihren Bewegungen Schönheit entdecken.
Freude und Lachen erzeugt
eine Ausstellungssequenz unter dem Titel „Western Stories“, die in einem
Kirchenraum Filmstills einer Camarque-Western-Tradition zeigt, die mir gänzlich
unbekannt war. Johnny Holliday singt und reitet, unentwegt das Leben und die Liebe preisend. Die Indianer der
Camarque sind die Sinti und Roma, die in St. Marie-de-la-Mer ihre Heilige
verehren. Laszive Blondinen inklusive. „J´aime la vie...“
In Fabrikhallen außerhalb
der Stadtmauern zeigt die Schau junge Fotografinnen und Fotografen, die einen nicht-männlichen, nicht-europäischen Kamera-Blick in die
Welt werfen. Am nachdrücklichsten allerdings hat sich mir eine Sammlung
Sebastien Sifshitz´ unter dem Titel „Sincerly queer“ eingeprägt, die Postkarten
von Flohmärkten, Zufallsfunde und Polizeifotos von Männern und Frauen zeigt,
die sich dem Geschlechterrollenmodell widersetzten. Unvergesslich unter vielen
dieser eindrucksvollen Fotographien eine Serie von Bildern „Bambis“, eines
Jungen, der sich ein Leben als Frau entwarf und es mit ihrem Körper führte,
verführte, alterte, lebte. Auf eine Weise, die noch tiefer zu ergründen wäre,
verdeutlichen diese Fotografien auch, was „bloßes“ Spiel mit der Rolle,
Maskerade/Travestie ist und was als ein individueller, ein „verwirklichter“
Lebensentwurf eine noch gänzlich andere Form der Anerkennung verlangt und
verdient. Darüber wäre – mit und jenseits der Theoreme zu „queer“ – noch einmal
nachzudenken. Ich denke an Begriffentwürfe
wie „Bürgschaft der Körper“, die aber noch entwickelt werden müssten. Oder:
Wahl und wahllos.
Das bringt mich – nolens
volens – „irgendwie“ zu aktuellen Ereignissen und den medialen Reaktionen
darauf. Überall nur Rechthaber, auch links, empfinde ich. Alle haben alles
schon gedeutet, ohne irgendwas zu wissen oder abzuwarten. Attentäter werden eingenordet, wo „man“
sie braucht: Wer Multikulti will und Differenz bejubelt, dem sind noch die
(selbst-)erklärendsten Bekenntnisse der Mörder bloß Ausdruck ihres (meistens)
durch gesellschaftliche Verhältnisse („unser“ Versagen, Rassismus, Mobbing,
allgemeine Bosheit durch „Weiße“, „Etablierte“, „Rechte“ etc.) verursachten
Wahnsinns. Andersrum ist den rechtsradikalen Idioten noch jedes Attentat, jeder
Amoklauf auf „Ausländer“ und/oder „Islam“ zurückzuführen. Muslime twittern,
noch während der Schießwütige frei herum läuft, sie hofften es handele sich um
einen Attentäter im Stile Breiviks, AfD-Politiker werben mit den Todesschüssen für ihre Partei. Niemand interessiert sich sonderlich für die Opfer, scheint
mir. Und keine/r nimmt die Täter in die Verantwortung; immer ist es etwas
Größeres: die Ideologie, die Gesellschaft, die Ausgrenzung. In solchen Stunden
erkenne ich, wo ich „in Wahrheit“ stehe: Ich bin eine Liberale. Wider die
Wirklichkeit und die Mehrzahl ihrer Interpreten halte ich denjenigen für
schuldig, der schießt, tötet, hasst. Ich glaube daran, dass er (es ist ja fast
immer ein „er“) auch anders könnte, wenn er wollte. Dass er an
seiner Unfähigkeit, seinen Ängsten, seiner Bosheit, seinem Hass auch arbeiten
könnte, dass er die Verantwortung für sein Leben auch bei sich verorten könnte
statt sie „in den Umständen“ zu suchen, auf die er seinen Hass projiziert. Und
ich glaube daran, dass sich Attentate und Amokläufe eher verhindern ließen,
wenn weniger „Ausreden“ für Versagen, Undiszipliniertheit und Selbstmitleid
anerkannt würden. Und deshalb: Ich
fordere: Aufmerksamkeitsentzug für diese Vollversager! Aufmerksamkeit verdienen
allein ihre Opfer, die Menschen, denen sie das Recht auf leben, lieben, lachen
entzogen haben. Und die Frage: Warum sie diese Opfer ausgewählt haben: Weil sie
jung waren, Freunde hatten, feierten, lachten, sich für eine friedliche,
vielfältige Gesellschaft einsetzen...? Das gilt es hochzuhalten, zu feiern und
zu ehren: Wofür die Opfer standen, nicht die Täter!
Hoch über Aix-en-Provence
war mehr zu entdecken als im Familienwohnsitz des viel gefeierten Cezanne. Die
Fondation Vasarely feiert, analysiert und erforscht das Werk Victor Vasarelys,
seiner Ideen einer neuen Stadt und Gesellschaft, seiner optimistischen
Sicht auf eine freiere, schönere, buntere Lebensweise in der Zukunft. Von hier
aus, von diesen gleichförmigen und vielfältigen achteckigen
Architekturbausteinen, in denen seine avantgardistischen Entwürfe nicht
ausgestellt, sondern dargestellt sind, ließe sich eine bessere Welt regieren,
denke ich: „Bekämpft die visuelle Verschmutzung und realisiert die bunte Stadt
des Glücks.“ Das ist utopisch.
Es gibt nichts Verräterischeres als die Wirklichkeit.
Es gibt nichts Verräterischeres als die Wirklichkeit.
Bewegen Sie sich!
The Masque of the Red Dress; well taken!
AntwortenLöschenBeste Grüße
NO