Schaufenster in Lüneburg. Anreise. Sommer 2019 |
Der Entschluss zur Sommerfrische. Keine Experimente mehr, keine unbekannten Destinationen. Im Sommer immer am selben Ort. Wohnen im Garten, in der Laube. 300m zum Strand hinunter. Den Strandkorb gleich für die ganze Zeit mieten, auch wenn das kaum was spart gegenüber den Tagespreisen. Wichtig ist: Routinen ausbilden. Diese ganzen Üblichkeiten (in memoriam Odo Marquard), die Verhandlungen überflüssig machen. Ein altes Paar sein, das sich nicht mehr alles sagen muss. (Wir reden trotzdem ziemlich viel.)
Wieder dieses Wohlbehagen angesichts des Mangels an Diversität. Alles sauber, wie mein Vater sagen würde. Kinder bringen ungefragt ihren Müll zum Mülleimer. Bälle fliegen nicht in die Strandkörbe der Nachbarn. Man entschuldigt sich höflich, wenn doch mal einer vor die Füße rollt. Väter bauen ehrgeizig Strandburgen. Mütter schleppen große Kühltaschen. Normfamilien, wo man hinschaut. Es wird auch viel gelesen. Taschenbücher, wg. Sand. Viel weniger BILD-Zeitung als in früheren Jahren. Kaum elektronisches Spielzeug. Trotzdem kein Gemaule von den Teenagern. Nirgendwo Ghetto-Blaster. Wirklich, nirgendwo. Dem Rauschen der Wellen macht niemand Konkurrenz. Nur die Möwen sind garstig. Räuber! Der Spiegel titelt mit MAD Boris. Das Bild gefällt mir. Ansonsten hat Annette Dittert schon vor einem Jahr alles gesagt, was es zu dem zu sagen gibt.
Wohnen im Garten. Weißtdunoch. Gartenlaube. Fast schon zuviel Idylle. |
Die Ostsee wie eine Badewanne. 20 Grad. Flach. Wie schön, als es eines Tages doch ein bisschen windet. Morel spricht von Sturm. Das ist maßlos übertrieben. Ich checke doch mal bei Twitter. Ist wie immer: Zeitgemäße Angeber brüsten sich mit der Unverschämtheit, Unbeherrschtheit und Unhöflichkeit von Kind 1, 2 oder 3. Und irgendwo läuft immer auch ein netter, kleiner Shitstorm. Ich denke darüber nach, meinen Account stillzulegen. Die Schnittmenge zwischen Twitterern und Sommerfrischlern ist verschwindend gering. Wer twittert, braucht interessantere Reiseziele.
Weiße, alte Männer gelesen. Galsworthy: Forsyte-Saga. Und: Forsyte-Chronicles. Gigantisch. Ich kannte ja nur (z.T. zuerst durch die Verfilmungen) den ersten Band. Dabei hat der Mann weiter geschrieben bis fast zu seinem Tod (1933). Interessant, diese Zeitbilder von einem, der nicht wissen konnte, was kommt. Politische Debatten wie heute: Englischer Nationalismus. Die „soziale Frage“. Eine Oberschicht, die Haltung hat, aber keine Ahnung. (Heute fehlt ihr sogar die Haltung, siehe oben, siehe Boris). Eine Figur wie Soames Forsyte. Ein Vergewaltiger in der Ehe. Aber eben auch: ein verzweifelt Liebender, später dann seiner verwöhnten Tochter Fleur. („A modern Comedy“; spielt in den 2oer Jahren des 20. Jahrhunderts). Meine Lieblingsfigur: deren Ehemann Michael Mont, konservativer Abgeordneter im Parlament, Anhänger einer verqueren Ideologie, des „Foggartism“. Morel sagt, dass eine Galsworthy nachgebildete Figur auch in den Romanen von Anthony Powell eine Rolle spielt, die er wieder weiterliest (siehe: hier). Als ein Vertreter überkommener Welt- und Literaturansichten.
Auf der Suche nach denen, den Überkommenen, den Konservierern (weil „konservativ“ ja inzwischen, fehlerhafter Weise, ein Synonym für „rechts“ geworden ist) scheine ich gegenwärtig zu sein. Eine Rückwendung nach vorn. Weil der gegenwartsbezogene Empörungswettlauf mich nur noch abstößt, geradezu körperlich. („Die schärfsten Kritiker des Kapitalismus kaufen beim Ökoversandhandel.“) Ich lese nicht (Belletristik), um mich über „Themen“ zu informieren. Ich lese, weil mir „die Menschen“ fremd sind und ich hoffen darf – lesend - , dass es so bleibt.
Kempowski-Archiv Rostock |
Noch mehr alte weiße Männer: Walter Kempowski. Wegen Rostock und so. Die deutsche Chronik. In der chronologischen Reihenfolge, nicht in der des Erscheinens oder Verfassens. Von „Aus großer Zeit“ bis „Herzlich Willkommen“. Der „schimpfte sich“ liberal und konservativ. Also nicht bunt. Es sind das Erinnerungsbücher in dem Sinne, dass sie die Leser_innen ins Erinnern bringen. Wie das so ist. Was man so sagt. Wie man nicht weiß, was man tut. („Vater unser immer Himmel“.) Wie das so geht, wenn Geschichte „gemacht wird“ (nur nicht von uns). Sprücheklopfer, wir alle. Diese bürgerlichen Hanseaten sind natürlich ganz anders als wir Hessen. Mein Urgroßvater hatte eine Ziegeleifabrik. Und 18 Kinder. Davon haben sogar wir noch profitiert (von der Fabrik). Dass wir alle Erben sind, ohne ein Recht, das Erbe auszuschlagen. Und Familien. Erbengemeinschaften eben, die sich nicht auflösen können. Und wieviel Trost da auch drin steckt. Trotz und wegen all der Verletzungen. Familienredeweisen: „Tadellöser“. „Gutmannsdörfer.“ Ich sag immer: „Nix als Ärger.“ Die Jungs nenn´ ich „Zwickel“, manchmal. Hessen loben nicht gern: „Man kann´s essen.“ „Do ko ma nix da geche sache.“ (Als habe man stundenlang nach einem Tadel gesucht.) Was mein Vater für Sprüche drauf hat: „Da glaubt jeder, er hätt den Marschallstab im Tornister.“ „Du weißt, wo der Maurer das Loch gelassen hat.“ Das Letzte gefällt dem Mastermind besonders gut. „Schleich dich, müdes Besteck.“ Weiß der Herr, wo das herkommt. Ich hatte mir als Kind vorgenommen, dass ich unbedingt auch mal sagen will: „Ruhe auf den billigen Plätzen.“ zu meinen Kindern, wenn ich im bequemen Fernseh-Sessel sitze. Hat geklappt. Und „Ruhe im Karton“ rufen, abends.
In Rostock haben wir das Kempowski-Archiv besucht, klar. Kleines Häuschen im Klosterhof. Idyllisch und irgendwie passend unpassend. Walter Kempowski hat das noch selbst eingerichtet, berichtet die Dame. Kopien seiner Manuskripte in Aktordnern. Familienfotos. So sah die also aus, die Schwester Ulla. Und die Mutter („Wie isses schön.“), hübscher eigentlich als Edda Seipel, deren Bild sich aber immer vor dieses schieben wird, sogar bei Kempowski selbst, wie man in seinen Tagebüchern lesen kann. Von Eberhard Fechner, dem Regisseur der Verfilmung von „Tadellöser und Wolff“ und „Ein Kapitel für sich“ erinnere ich vor allem die Dokumentationen: "La Paloma". Warum werden die eigentlich nie mehr wiederholt? Die Öffentlich-Rechtlichen sitzen auf einem Schatz. (Da müsste man mal was machen. Ein Medienarchiv, gut erschlossen mit Tags und allgemein zugänglich. „Wenn ich im Lotto gewinne…“) Rostock ist nett hergerichtet, kein Vergleich zum Zustand 1990, wie ihn Kempowski bei der ersten Wiedereinreise in die DDR vorfand. Aber die Fußgängerzone jetzt halt wie überall, die bekannten Drogeriemärkte und Modeketten. Wann fing das an, dass alle Innenstädte gleich aussehen? Ich glaube, das war erst ab den 90ern so, auch im Westen. Ich würde ja auch mal nach Nartum fahren, jetzt, nach der Lektüre (bin jetzt bei den Tagebüchern). Mal sehen, ob sich der Morel davon überzeugen lässt.
Wunderbar erholsam war sie, diese überraschungsfreie Sommerfrische. Keine Neugier auf ausgefallene „Erlebnisse“ (Ha, gegeben Jochen Schweitzer, brauch ich nämlich nicht!). Das hilft vielleicht ja auch gegen die Vielfliegerei, so ein weises Achselzucken, wenn jemand von Tauchabenteuern auf Mauritius oder Spaziergängen im Dschungel von Borneo oder weißen Stränden vor Rio erzählt. „Wir waren in Kühlungsborn, wie jeden Sommer.“ Das bedeutungsvoll betonen, ganz exklusiv und so ein bisschen von oben herab. (Ist ja vulgär, dieses Fernreisen. Aber echt jetzt. Wer macht denn noch sowas?)
Jeden Abend das Gleiche. |
PS. Ich habe übrigens nicht nur alte, weiße Männer gelesen. ´türlich. Auch alte weiße Frauen. Entdeckungen gemacht: Elizabeth Jane Howard und Gabriele Effinger. Davon demnächst.
<3
AntwortenLöschenWollte nur noch beifügen, dass Frau Kempowski, die Witwe des Autors, vor kurzem gestorben ist.
AntwortenLöschenHier zu lesen:
http://www.ortheil-blog.de/2019/08/15/hildegard-kempowski-ist-gestorben/