Samstag, 26. Februar 2022

Natascha Wodin: "Sie kam aus Mariupol" - Lasst Mariupol nicht im Stich! #IStandWithUkraine

 Samstag, 26. Februar 2022, 16:26 Uhr 





Die im Südosten der Ukraine liegende Hafenstadt Mariupol am Assowschen Meer wird in diesen Stunden von russischen Truppen eingekreist. 


2017 erhielt Natascha Wodin für „Sie kam aus Mariupol“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Eine Gattungsbezeichnung fehlt. Wodin schildert in diesem Buch, das kein Roman ist, aber auch keine (Auto-)Biographie, wie sie die Herkunft ihrer Mutter und deren Leidensweg von Mariupol an die Regnitz, in der sie sich mit nur 36 Jahren ertränkte, recherchiert, um zu verstehen, wer diese Frau war, die sie als klein, zart, hungrig und unendlich traurig und hoffnungslos in Erinnerung hat. 


„Ukrainer, die den größten Teil der Ostarbeiter stellten, gelten als die minderwertigsten Slawen, noch niedriger als sie stehen in der Rassenhierarchie nur noch die Sinti und Roma und Juden. Sie werden auf den Straßen ergriffen, in Kinos, in Cafés, an Straßenbahnhaltestellen, auf Postämtern, überall, wo ihrer habhaft werden kann, sie werden bei Razzien aus ihren Wohnungen geholt, aus Kellern und Verschlägen, in denen sie sich verstecken. Man treibt sie zum Bahnhof und bringt sie in Viehwaggons auf den Transport nach Deutschland.“


Natascha Wodin war 10 Jahre alt, als ihre Mutter sich umbrachte. Das Kind hatte diese Tat längst erwartet, die Mutter sie viele Male angekündigt, oft auch so, als wolle sie ihre Kinder, Natascha und die jüngere Schwester, mitnehmen in den Tod. Die Ich-Erzählerin in „Sie kam aus Mariupol“ will als alte Frau begreifen, was die Mutter geprägt hat. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. 


Im ersten Teil erzählt Wodin, wie sie über Internet-Recherchen und mit Hilfe eines russischen Hobby-Genealogen immer mehr über die große Familie ihrer aus verarmtem russischem Adel stammenden Mutter erfährt. In Mariupol hatte ihr Großvater seine zweite Frau geheiratet, die Tochter eines italienischstämmigen Seefahrers und Großhändlers. Politisch hatte sich der Großvater entgegen seiner eigenen Herkunft gegen das Zarenreich eingesetzt und war für viele Jahre nach Sibirien verbannt worden. Mit der zweiten Familie lebte er im großbürgerlichen Haus der Schwiegereltern in Mariupol. Die Mutter der Erzählerin, Jewgenia, wird 1920 in die Revolutionswirren hineingeboren, von Anfang an ist ihr Leben durch Armut und Hunger geprägt, aber auf sonderbare Weise auch noch durch die adelige und großbürgerliche Herkunft der Eltern, was sie - nach Auffassung der Erzählerin - lebensuntüchtig macht, da sie keine praktischen Fähigkeiten vermittelt bekommt. 


Im zweiten Teil des Buches steht die Geschichte der älteren Schwester der Mutter, Lidia, im Zentrum, auf deren lang verschollenes Tagebuch die Erzählerin stößt. Lidia schließt sich, als Bürgerliche geächtet, in ihrer Studienzeit in Odessa einer Widerstandsgruppe gegen die Kommunisten an, wird gefoltert und verschwindet für Jahrzehnte in einem Arbeitslager. Auch die Geschichten der anderen Familienmitglieder, die die Erzählerin nach und nach freilegt, verdeutlichen die traumatischen Verheerungen, denen die Menschen in der Ukraine und im gesamten Sowjetreich durch Revolution, Bürgerkrieg, Weltkrieg, Hungerkatastrophe in der Ukraine (Holodomor) und stalinistische Verfolgungen ausgesetzt waren. 


„Was für eine Familie war das? Der Vater meiner Mutter ein bolschwestischer Revolutionär mit einer langen Verbannungsgeschichte, ihr Bruder ein dekoriertes Parteimitglied, ihre Schwester und sie selbst Renegatinnen, die eine verbannt in ein sowjetisches Arbeitslager, die andere Zwangsarbeiterin beim deutschen Kriegsfeind, eine potentielle Kollaborateurin.“


Wegen des großen Altersabstandes zwischen Lidia und der Mutter der Erzählerin und deren Deportation ins Arbeitslager, kann die Erzählerin nur wenig über ihre eigene Mutter aus dem Tagebuch erfahren. Im dritten Teil versucht sie, die Flucht und/oder Deportation der Mutter und ihres eigenen Vater aus Mariupol nach Westen zu rekonstruieren. Vater und Mutter der Ich-Erzählerin wurden in Zwangsarbeitslagern bei Leipzig von den Nazis ausgebeutet. In einem solchen Lager wurde die Erzählerin gezeugt und geboren. Nicht ganz sicher kann sie sich sein, ob die Eltern nach Deutschland wollten, weil sie Angst vor stalinistischer Verfolgung hatten oder ob sie zwangsverpflichtet wurden. Sie weiß nur, dass der Hass auf Stalin die Eltern verbunden hat. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gibt es für die Eltern der Erzählerin keinen Weg zurück ins Sowjetreich, wo sie mit Verfolgung und Stigmatisierung rechnen müssen. Im Deutschland der Nachkriegszeit werden die Zwangsarbeiter zu Displaced Persons, zusammengepfercht in Lagern und Ghettos. In einem solchen wächst die Ich-Erzählerin nördlich von Nürnberg auf. Das Kind erfährt die Ausgrenzung in der Schule, die bittere Armut der Familie und begreift nie ganz, was sie so vollständig von der Außenwelt, diesem Deutschland, trennt. 


„Wenn ich mich an etwas genau erinnere, dann an den Hass meiner Eltern gegen die Sowjetmacht, gegen Stalin, dieser Hass war vielleicht ihre stärkste Gemeinsamkeit.“


„Sie kam aus Mariupol“ ist ein lesenswertes und lehrreiches Buch. Privilegierte wie ich, die ganz unverdient ein ganzes Leben lang die Friedensdividende eingestrichen haben, können hier verstehen lernen, wie in unseren östlichen Nachbarländern sich an die Verheerungen des Weltkriegs nahtlos der stalinistische Terror anschloss. Man kann sich vorstellen, wie, wer dem Terror der Schergen Stalins ausgesetzt war, zum radikalen und unversöhnlichen Antikommunisten werden konnte, auch anfällig für Nationalismus und Faschismus. Und wie umgekehrt mit den Opfern unter dem Faschismus noch die fürchterlichsten Verbrechen der Stalinisten gerechtfertigt wurden. Keine Familie ohne vielfältige Traumata, tödliche Feindschaft, Verrat, Angst. 


Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird die ungeheure Leistung dieser Generation von Ukrainerinnen und Ukrainern erst begreiflich, die vor 8 Jahren auf dem Maidan sich das Recht auf Selbstbestimmung erstritten hat. Eine junge Demokratie, strauchelnd, auch ringend mit dem Versuch der Korrumpierung durch Oligarchen. Und doch: Hoffnungsvoll. Der einzige Staat in Europa mit einem frei gewählten jüdischen Präsidenten. 


„Sie kam aus Mariupol“ - einer Stadt, die im 20. Jahrhundert schon so viel Leid und Vernichtung erfahren hat und die in diesem Moment, in dem ich das schreibe, vielleicht von russischen Truppen eingenommen wird.


Lasst Mariupol nicht im Stich! Ich appelliere an die Bundesregierung, die Bitten der frei gewählten Regierung der Ukraine in diesen Stunden zu erhören. 


#IStandWithUkraine


Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol, 2017

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