Montag, 27. September 2010

LUST UND FRUST

„Ist das wirklich wahr, dass du ihn nie eindringen lässt?“
Elke verschluckte sich fast.
„Ehrlich, du lässt ihn nicht rein?“
Manuela nickte und schob ein Stück Bienenstich in den Mund. Die Freundinnen warteten ungeduldig bis sie es hinunter geschluckt hatte. Sie ließ sich Zeit, leckte genüsslich die Creme von den Lippen, senkte die Kuchengabel und schaute schweigend in die Runde.
„Jetzt sag schon.“
„Man kann doch auch so viel Spaß haben. Ich sorge schon dafür, dass er nicht zu kurz kommt.“
Gabi konnte es nicht fassen: „Wie lange seid ihr zusammen? Und du hast ihn noch nie...?“
„Doch ganz am Anfang schon. Aber schon lange nicht mehr. Ich mag das einfach nicht.“
Judith war erstaunt: „Ich mag eigentlich nur das. Oder vor allem das. Kann gar nicht tief genug sein.“
Elke wollte das Thema nicht vertiefen: „Lasst uns über was anderes reden.“
„Aber warum denn? Das ist doch wirklich interessant. Ich könnte mir das nicht vorstellen. Einen so lange hinzuhalten.“, Gabi war immer noch perplex.
„Aber ich halte ihn doch nicht hin. Er weiß doch, dass es so ist. Und es ist o.k. für ihn.“
„Ihm liegt auch nichts daran?“
„Er würde wohl schon. Wenn ich wollte. Aber er akzeptiert, dass ich nicht will.“
„Also verzichtet er. Das könnte ich nicht. Ich fühlte mich verpflichtet, ihm zu geben, was er braucht.“
„Wie bitte?“, jetzt war es Judith, die nicht fassen konnte, was sie hörte.
„Ich hätte das Gefühl, ich verweigerte ihm, was ihm zusteht. Und ich hätte Angst, dass er geht.“
„Ich würde nie etwas machen oder zulassen, was mir keine Lust bereitet. Niemals.“
Elke wollte zwar nicht darüber reden, aber das musste sie klarstellen:
„Du willst uns doch nicht weiß machen, dass du noch niemals, nun ja, es über dich hast ergehen lassen. Aus Mitleid. Oder weil er es einfach brauchte. Oder weil du dachtest, du wärest schon zu weit gegangen, um noch Stopp zu sagen.“
Judith wurde jetzt richtig sauer: „Das ist selbstverständlich für mich. Ich lass mich doch nicht darauf ein aus Angst oder Verpflichtung oder Mitleid. Das ist ja abscheulich.“
„Komm, tu nicht so. Fast jede Frau hat das schon gemacht.“
„Als so eine Art Dienstleistung, oder was?“
„Wenn du so willst.“
Manuela hatte bis dahin geschwiegen, doch jetzt mischte sie sich ein: „Ich bin ganz Judiths Meinung. Es geht um Lust. Nicht um Pflichten. Oder Geschäfte. Oder Mitleid. Mitleid ist ja die schlimmste Erniedrigung.“
Judith setzte nach: „Kein Tauschhandel. Nicht dabei. Auf keinen Fall. Ich bin nicht romantisch. Da aber schon. Das ist für mich keine Verhandlungssache. Man muss wollen.  Sonst ist es widerlich.“
Gabi wollte sich nun auch nicht mehr raushalten: „Das lässt sich in einer langen Partnerschaft nicht durchhalten. Da entstehen doch Ansprüche. Rituale.“
„Willst du damit sagen, du lässt es auch so über dich ergehen, weil der Herr will, selbst wenn du nicht willst?“, Manuela war empört.
„Was heißt schon ´über sich ergehen lassen´. Ich mag ihn ja. Ich liebe ihn sogar. Das ist dann schon o.k. Man kann ja auch nicht jedes Mal kommen.“
„Nicht?“ Manuela und Judith lachten. Die anderen beiden blickten ungläubig.
„Na gut, fast jedes Mal.“, räumte Judith ein. „Aber auf jeden Fall: die Chance muss bestehen. Ich will da keine Kompromisse. Ganz oder gar nicht. Man muss doch nicht alles abwägen.“
„Und wenn du nicht willst, dann stößt du ihn einfach weg?“
„Ich zeige es. Durch eine kleine Geste. Eine Kopfbewegung. Vielleicht ein Wort.“
„Und das nimmt er hin?“
„Wie lasst ihr denn hier die Männer aussehen?Und umgekehrt: Das kommt doch genauso vor, dass ich will und er nicht. Und dann nehme ich das auch hin. Schade halt.“
„Hilf dir selbst, sag ich nur.“
Sie lachten.
Dennoch: Es blieb eine ungute Stimmung zwischen den Freundinnen an diesem Nachmittag. Es war kein moralisches Problem, um das es hier ging. Das, worum es ging, war verletzender als jedes moralische Urteil, das eine über die andere fällen konnte.

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