Sonntag, 12. September 2010

UMSCHLAG INS GRAUEN




Shirley Jackson:  We have always lived in the castle


von MOREL

Manche Schläge sitzen tief. Einen solchen Schlag mussten viele treue Leser der Wochenzeitschrift New Yorker im Sommer 1948 verkraften, nachdem sie die Geschichte The Lottery von Shirley Jackson gelesen hatten. Abonnements wurden gekündigt, hasserfüllte Briefe geschrieben, im fernen Südafrika ging man gleich auf Nummer Sicher und verbot die Geschichte. Die arme Autorin musste sich sogar Vorwürfe ihrer Eltern anhören: „Warum schreibst du nicht etwas, was die Leute aufmuntert?“

Dabei fängt alles so harmlos an. In einem kleinen Dorf versammeln sich die 300 Bewohner auf dem Platz vor der Post, um die jährliche Lotterie abzuhalten. Die Lose werden schon vorbereitet, als Tessie Hutchinson, ihre vom Abwasch noch nassen Hände an der Schürze abreibend, zu ihrer Familie stößt. Dann beginnt die Lotterie, durchgeführt vom jovialen Mr. Summers und beaufsichtigt vom Leiter des Postamts. Alles soll so laufen wie jedes Jahr, damit alle Familien rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause sind. Schon bald ist es Bill Hutchinson, der das verhängnisvolle Los mit dem schwarzen Zeichen zieht. Damit ist eine Entscheidung gefallen, auch wenn Tessie nicht einverstanden ist. Aber nun muss ein Mitglied der Familien Hutchinson ausgelost werden. Alle hoffen, dass es nicht die kleinen Kinder trifft, aber schnell stellt sich heraus: das entscheidende Los fällt auf Tessie. Ihre letzten Worte „Das ist nicht fair, das ist nicht richtig“ gehen im Hagel der Steine unter, die schon vor Beginn der Auslosung von den Schulkindern bereit gelegt wurden. Solche Lotterien werden, wie wir erfahren, an jedem 27. Juni im ganzen Land abgehalten.

Die Geschichte ist inzwischen Schulstoff, ohne ihre leise, beunruhigende Wirkung verloren zu haben. Typisch für Shirley Jackson – neben dem sardonischen Humor und der bösen Beobachtungsgabe – ist der Umschlag von der Idylle in Grauen. Auch Jacksons letzter Roman Wir haben immer im Schloss gelebt lebt von dieser Spannung. Diesmal ist die Perspektive allerdings eine andere. Die Erzählerin, Mary Katherine Blackwood, auch Merrycat genannt, geht wie jeden Dienstag ins Dorf einkaufen, misstrauisch beäugt von den Bewohnern. Sie ist froh, wieder nach Hause zu kommen zu ihrer Schwester Constance und Onkel Julian. Wie die unglückliche Tessie, bei der wir es zumindest vermuten dürfen, ist Constance eine leidenschaftliche Hausfrau. Sie kocht gerne, pflegt ihren Garten und hält auch die nicht mehr bewohnten Räume des in einem dichten Park liegenden Hauses glänzend sauber. Onkel Julian, der schon ein bisschen verwirrt ist, beschäftigt sich in seinen lichten Stunden mit seinen Papieren. In ihnen versucht er die Ereignisse festzuhalten, die zum Tode der Eltern und des Bruders von Constance und Merrycat geführt haben. Sie wurden vergiftet, aber Constance, die begabte Köchin, wurde in einem Aufsehen erregenden Prozess freigesprochen. Eine Wendung ins Unheilvolle nehmen die Dinge schließlich mit dem Einzug von Charles, einem Cousin, der über Constance vor allem an einen Safe mit viel Bargeld zu kommen versucht. Dieser Roman wird gerne als etwas unheimliche Kriminalgeschichte gelesen. In den folgenden Anmerkungen soll nicht zuviel verraten werden, aber es lassen sich eben auch andere Aspekte entdecken.

Die perfekte Hausfrau. Constance geht im Führen ihres kleinen Haushalts und in der Gartenarbeit auf. Durch den Prozess traumatisiert, verlässt sie das Haus nicht mehr und versucht soziale Kontakte zu vermeiden. Die wenigen Freunde der Familie stammen aus der Oberschicht der kleinen Gemeinde und kommen zu festen Terminen zum Kaffee. Als guter Geist, der über alles Dunkle und Beklemmende hinwegsieht, wird sie uns zunehmend unheimlicher. Eine Satire auf den amerikanischen Alltag oder feministische Kritik?

Das unvollendete Werk. Onkel Julian ist die komische Figur in diesem Roman. Verloren in seinen Aufzeichnungen, immer nur ans Essen denkend, wird leicht übersehen, dass er für den Roman als Schreiber eine zentrale Position hat. Er versucht schreibend zu rekonstruieren, was zum Unglück dieser besonderen Familie geführt hat. Seine Erinnerungen sind unzuverlässig, seine Schriftstücke ungeordnet, aber seine Bemerkung, Merrycat sei schon vor vielen Monaten im Waisenhaus an Verzweiflung gestorben, öffnet die Erzählung auf eine ihrer Parallelwelten. Der Schriftsteller wird hier als scheiternder Idylliker porträtiert. Immer wieder versucht sich Julian, an den Morgen zu erinnern, als die Familie noch komplett war.

Die unzuverlässige Erzählerin. Merrycat schließlich gibt dem Leser auch noch Rätsel auf, wenn der Roman mit den Worten „Wir sind so glücklich“ endet. In ihrem ersten Satz behauptet sie, mit einigem Glück wäre sie als Werwolf geboren. Sie steht in einer Reihe unzuverlässiger Erzähler im Roman des 20. Jahrhunderts, bei denen jedes Wort auf die Goldwaage einer vorsichtig abwägenden Lektüre gelegt werden sollte. Dass Shirley Jackson vor allem als Horror- und Kriminalschriftstellerin gelesen wird, hat das häufig verhindert. Zwischen naivem Märchenton und hintersinniger Bosheit schwankt die kunstvolle Sprache, die Jackson für Merrycat gefunden hat. Die Entlarvung unserer heilen Welt als sadistisch machte den Schock von The Lottery aus. Auch in We have always lived in the castle kommt es zu einem Umschlag: in Identifikation mit Merrycat werden wir am Ende selber zum Monster. Und die im Laufe der Zeit vor dem mit Efeu überwachsenen Haus spielenden Jungen sind dann die Identifikationsangebote, die tausende von Horrorfilmen Heranwachsenden bis heute machen. Es ist eben alles eine Frage der Perspektive.

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