Am 28. Februar habe ich den letzten Brief aus der Serie „Punk Pygmalion“ eingestellt. Erinnert sich überhaupt noch jemand an Emmi und Ansgar, jenes merkwürdige Liebespaar, in dessen Geschichte ich als Herausgeberin der Liebesbriefe geraten bin, die Ansgar in der zweiten Hälfte der 80er Jahre geschrieben hatte? Über zwanzig Jahre hatten Emmi und Ansgar keinen Kontakt, als mir Emmi im Oktober letzten Jahres den Schuhkarton mit diesen Briefen übergab. Zufälligerweise (aber ich glaube nicht an Zufälle) traf Emmi just zu diesem Zeitpunkt Ansgar wieder und die alte Liebe entflammte erneut. Sie bat mich die Briefe von damals herauszugeben, um der Geschichte, die vor so vielen Jahren in Schmerz und Verzweiflung geendet war, diesmal ein „Happy End“ zu schreiben.
Schon beim letzten Mal musste ich mich entschuldigen, dass so lange Abstände zwischen der Herausgabe der einzelnen Briefe entstanden sind. Ich könnte Arbeitsbelastung vorschützen (das wäre nicht gelogen), familiäre Verpflichtungen (auch das ist wahr), aber tatsächlich liegen die Gründe in den Beziehungen selbst: zwischen Emmi und Ansgar und Emmi und mir. Es ist viel leichter aus einer Perpektive des Rückblicks zu schreiben, als unmittelbar aus der Gegenwart, mitten aus einer Geschichte, deren Ende nicht abzusehen ist. Denn Emmis Auftrag, so dringlich vorgebracht, für einen glücklichen Ausgang zu sorgen, bindet und überfordert mich.
Die heftige Veränderung, die die Begegnung mit Ansgar 1983 bei Emmi ausgelöst hatte, die Verwandlung des blonden Teenagers in einen blassen Punk, ihre zugleich aufgedrehte und rätselhafte Haltung, das Geheimnis, das sie seit jenen wenigen Tagen in Berlin umgab, die sie mit Ansgar verbracht hatte, sie waren und sind mir unheimlich. Emmis Verhalten damals, Ansgars mächtige körperliche Präsenz, die ich erlebt hatte, und einige Formulierungen in den Briefen erweckten sogar den Verdacht in mir, Ansgar habe Emmi in Berlin vergewaltigt und auf irgendeine mir unerklärliche Weise sei sie ihm sexuell hörig geworden. Dass ich diesen Verdacht ausgesprochen habe, hat Emmi tief gekränkt. Trotzdem war es wichtig, das zu klären und dennoch..., dennoch: Ich bin beunruhigt, mehr denn je, seit ich mich fast durch den ganzen Karton durcgelesen habe. Es scheint mir etwas Unlauteres, Bemächtigendes von diesen Briefen auszugehen, etwas was Emmi dauerhaft beschädigt hat.
Es ist so schwierig, sich darüber Rechenschaft abzulegen, wieviel von diesem Unbehagen meine Projektion ist. Was mit Emmi geschehen war, erlebte ich als eine radikale Öffnung, ein unbedingtes Sich-Einlassen auf die Wünsche eines Fremden und zugleich als einen Verschluss, als kapsele sie sich selbst ein, als könne sie nicht mehr aus sich heraus. Er hatte sie ganz offenbar „sexuell erweckt“, wie man so sagt, und doch war sie gerade durch die Art, wie es geschehen war, zum Mädchen geworden, nicht zur Frau. Ich weiß, wie sonderbar das klingt, was ich hier versuche zu beschreiben. Ich kann es nicht besser.
In den Osterferien 1984 traf Emmi, die von Ansgar in den Briefen angefleht wurde, nach Kopenhagen zu kommen, eine sonderbare Entscheidung. Sie, die auf Ansgars Wunsch hin Frisur, Kleidung, Lektüre, Musik änderte, entschloss sich mit mir nach Paris zu fahren. Ansgars Reaktion war kurz und schrecklich.
Hi Emmi,
ich bin noch nicht tot. Das nicht.
Beinahe aber.
Du bist nach Paris gefahren, schreibst du. Eine Postkarte vom Eiffelturm. Was erwartest du? Willst du, dass ich komme, um mich hinunter zu stürzen?
Deine Gründe. Paris. Asger Jorn. Willst du das nicht mit mir sehen? Das sollte unsere Stadt sein. Wie in Berlin. Parkbänke. Wir verdrücken uns in die dunklen Gassen des Marais. Deine Hände unter meinem Pullover. Ich halte dich immer hoch unter den Brücken gegen die Wand. Emmi. Was hast du dir gedacht? Ich möchte Deinen Körper mit den Augen der Strangulierten sehen. Ihn mit meinen Händen bearbeiten wie die Figuren, die ich aus dem Stein schlage.
Was wolltest du beweisen?
Mein Vater ist gestorben. Geld ist jetzt kein Problem mehr. Ich werde fürs Erste auf seinem Boot leben. Du kommst nicht? Kommst du? Schreib mir über M. Sie scheint Einfluss auf dich zu haben.
Emmi, soll ich die Jolle in der Ostsee versenken? Was willst du?
Ansgar
Emmi hat sich in den letzten Wochen nur selten bei mir gemeldet. Meistens mitten in der Nacht. „Wie sehr ich ihn liebe...“, flüsterte sie. Da war sie gerade mal wieder von einem Wochenende in Kopenhagen zurückgekehrt. Die Telefonate trugen nicht dazu bei, mich zu beruhigen. Sie ist eine Frau über 40, sagte ich mir. Sie weiß, was sie tut. Aber Emmi klang atemlos, kindlich. Zwei Wochen hatte ich nichts von ihr gehört, als ich sie vorgestern anrief, um ihr zu sagen, dass ich den Brief einstellen wolle, den Ansgar ihr wegen der Reise nach Paris geschrieben habe. Sie schwieg. Dann sagte sie: „Es hätte umgekehrt sein müssen: Er hätte versuchen müssen, mich fernzuhalten. Kannte er mich so gut? Wusste er, dass ich nicht nach Kopenhagen kommen würde, wenn er mich so heftig drängte?“ Sie unterbrach sich. „Was meinst du damit?“ Ich hörte sie schluchzen, dann legte sie auf. Seither kann ich sie nicht erreichen. Was ist los, Emmi?
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