Samstag, 15. Oktober 2011

PUNK PGYMALION (17): Aus Stein gehauen

Fortsetzung der Brief- und Blogromans: Punk Pygmalion

Es gibt keine Reaktion von Emmi oder Ansgar, auch keine neuen gefakten Postkarten aus der Provence. Ich habe mich durchs Netz gesurft auf Ansgars Spuren; ich habe gelernt, dass er als einer der bedeutendsten Bildhauer unserer Zeit gilt, dass Ansgars wuchtige Skulpturen, wie die Kritiker schreiben, auf „beeindruckende und beinahe erschlagende Weise das Organische zurück in die anorganische Struktur holen“. Diese Skulpturen, die ich nur von den Abbildungen im Netz kenne, sind – soweit man das erkennen kann – grob gearbeitet, der Stein nur an wenigen Stellen, an diesen aber desto glänzender, poliert, sie erinnern immer an verschlungene Körperteile, doch gibt es stets eine Irritation, nie kommt ein vollständiger Körper zusammen, aber es gibt auch keine Brüche, nur diese endlose Verstrickung und Umklammerung der Extremitäten. Ansgar hat verschiedene Materialien benutzt: Sandstein, Granit, meist aber Marmor. Sie gefallen mir nicht, seine Skulpturen; ich glaube, ich habe das schon einmal gesagt. Sie hauen das Lebendige nicht in den Stein, sondern aus ihm heraus. Das sollte mir gefallen. Es liegt jedoch rohe Gewalt in jedem Hieb, der sich in den Stein eingegraben hat. Aber ich sehe auch, dass diese Arbeiten gut sind. Verdammt gut.

Über die Person Ansgar habe ich nichts Neues finden können. Die Vermisstenanzeige der Familie vom August ist immer noch der jüngste Eintrag. Vielleicht ist er längst wieder aufgetaucht. Aber wo steckt Emmi? Und wer war der junge Ansgar-Lookalike, von dem sie sich in St. Ambroise so schamlos auf der Straße befingern ließ? Ich frage mich...Es ist diese falsche Scham, die mich hindert, Kontakt zu Ansgars Familie aufzunehmen. Wissen sie von Emmi? Hat Emmi von Ansgars Frau und Sohn gewusst? Und: Seit wann? Ist es meine Pflicht, bei der Aufklärung zu helfen? Oder rede ich mich aus Neugier wieder in eine unzulässige Einmischung hinein, wie damals, als ich meinte, Ansgar habe Emmi im Sommer 1983 in Berlin vergewaltigt. Und mich hinterher wirklich schämen musste.

Emmi bittet mich auf jeder dieser Karten, die sie so verlogen an mich schickt, mit der Veröffentlichung der Briefe fortzufahren. Ich bin verdammt wütend auf Emmi. Aber ich habe auch Angst um sie. Es muss eine große Verzweiflung sein, die sie antreibt, das weiß ich.

Asger Jorn: Ohne Titel, 1946
Ansgar setzte seine Reise durch Europa im Sommer 1984 fort. Von Ungarn aus fuhr er gen Süden. Postkarten aus Rimini („Es ist überfüllt mit deutschen Touristen. Sie ekeln mich und ich fühle diesen mörderischen Zorn in mir aufsteigen.“), Genua, weiter an der Südküste Frankreichs („Nizza ist eine Wucht. Ich wandere bekifft durch die Gassen. Eine ungeheure Dröhnung.“) Eine längere Zeit blieb er offenbar in einem Dorf im Hinterland von Barcelona. Von hier aus schrieb er Emmi einen Brief.


                                        August 1984
Liebe Emmi,

wir haben gar nicht über Asger Jorn gesprochen, als ich bei dir war. Dabei bin ich vor allem auch deshalb gekommen. (Das ist natürlich gelogen. Ich wollte meine Zunge in deinen Hals stecken und deine Brüste unter meinen Händen verstecken und mich mit voller Wucht auf dich werfen und in dich stoßen. Das wollte ich.) Was hältst du von Jorn? Ich weiß, dass du die Ausstellung in Paris gesehen hast und ich habe dir zum Geburtstag damals den Katalog vom Silkeborg Museum geschickt.

Bitte schau rein, schau genau hin. Du wirst mich in diesen Bildern eher verstehen, als durch alles, was ich dir sagen oder schreiben kann. Ich weiß nicht, was du sehen wirst, das stimmt, aber du wirst mich da finden, das weiß ich. Das, was ich bin, wenn alles abgefallen ist, was ich inszeniere. Ich weiß nicht. So stimmt es nicht, denn du musst begreifen, Emmi, dass wir unsere Inszenierungen sind. Dass es wahr ist, was ich dir ZEIGE. Es ist viel wahrer als die ganzen verdammten Fakten und ich zeige dir: LIEBE. In jeder Hinsicht, vollkommen, kann ich nur dir das zeigen, dass ich DICH so will. Ich habe gesehen, was du für mich getan hast und es war ein so heftiges Gefühl, deine schwarzen Haare, wie blaß du bist und deine Augen.  Bitte, Emmi, versteh, dass ich nicht so sein kann, wie du mich willst, aber dass ich ALLES sein kann, wenn du willst.

Sieh dir die Bilder genau an. Nr. 22 ist ohne Titel. Es ist sehr klein und schwarzweiß abgebildet im Katalog. Tatsächlich ist es blau mit Wasserfällen, die über die Oberfläche rinnen und vielen kleinen Kreaturen, Gnomen, die herumspringen und toben. Die Frühlingssonne steht über allem. Es ist voller Freude und Hoffnung. Der Frühling siegt über einen langen und kalten Winter. Fühlst du das?

Blättere weiter, bitte. Nr. 94. Eine Vase. Ich habe diese Keramik-Arbeiten lange übersehen. Tu das nicht. Zwei, die sich küssen. Aber auch ein Baby im Leib der Mutter.

Siehst du mich? Die Energie und die Farben, die Gewalt, das Rohe und die Angst. Ich bin rücksichtlos. Ich wünschte du würdest dich in diesen Gemälden verlieren. Schreib mir, was du in den Gesichtern der Gnome siehst.

EMMI: Hast du nie die Idee, ohne eine Ausbildung und Arbeit zu sein? Kannst du dir nicht vorstellen deine Eltern zu verlassen und wegzugehen mit mir und einfach von Tag zu Tag zu leben. Ich versuche das. Ich will dir von dieser Energie geben, die mich antreibt; ich habe viel zu viel davon. Du musst verrückt werden und rauskommen aus dir, weißt du?

Du kannst mir an die Adresse schreiben, die ich beilege. Ich bleibe eine Weile hier. Und hoffe, dass du kommst.

Ansgar

Asger Jorn: Vase, 1953


Ich weiß nicht, ob Emmi kam, damals. Im Sommer 1984 reiste ich für zwei Monate mit einer anderen Freundin durch Nordamerika. Das war der Sommer nach unserem Abitur. Plötzlich wird mir klar, dass Emmi nie erzählt hat, was sie in diesem Sommer getan hat.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen