Donnerstag, 8. November 2012

SELBST-LOS. SCHMERZ-HAFT. Marlene Streeruwitz´ Roman "Die Schmerzmacherin"


Care and attention“, mit diesen Worten endet Marlene Streeruwitz´ Roman „Die Schmerzmacherin“. Ihre Heldin lächelt dazu. Man weiß nicht genau, warum. „Pass auf und sei vorsichtig.“  Niemand hat auf Amy aufgepasst und sie war nicht vorsichtig (genug). Wird sie es in Zukunft besser machen? Amy bemüht sich durchaus. Als sie unerwartet eine Fehlgeburt erleidet, schafft sie es, den Fötusklumpen, der wie ein Stück Leder aussieht, zu sichern, um ihn auf seine DNA untersuchen zu lassen. In Streeruwitz´ Roman bringt es Amy jedoch wenig, wenn sie umsichtig und vorsichtig agiert. Aber es hält sie in Bewegung: Hinter sich sauber machen, nichts liegen lassen, keinen Müll produzieren, weg fahren. So macht Amy das.

Das hätte ganz gut passen können - zur Politik eines Sicherheitsunternehmens, das sich auf jene Aufgaben spezialisiert, die der moderne Staat outsourct: Folter, Erpressung, Menschenhandel. Aber es hat nicht gepasst. Amys Beurteilung ist vernichtend. Sogar für dieses Geschäft fehlt ihr offenbar was. Amy kann akzentfrei Englisch;  sie ist sportlich und außergewöhnlich schön. Die Schönheit ist eine Waffe, wie ihr Förderer Gregory, der Chef des Unternehmens, weiß, aber das nützt ihr auch nichts. Amy kriegt es nicht hin, so wenig, wie sie ihr Studium der Betriebswirtschaft hingekriegt hat. Sie träumt ein wenig davon, eine Surfschule aufzumachen. Surfen kann sie gut, aber im Grunde ist klar, dass sie auch das nicht hinkriegen würde, so ein Geschäft aufzuziehen. Es fehlt ihr der nötige Antrieb, die Motivation, ein eigenes Interesse.

Man kann Marlene Streeruwitz Roman über dieses Dreivierteljahr im Leben der 24jährigen Österreicherin Amalie, die sich Amy nennen lässt, als eine Parabel auf die gegenwärtigen Verhältnisse in der paranoiden Sicherheitsgesellschaft lesen: die Umzingelung durch Überwachungskameras und Abhörsysteme, Datenspeicher und Computer-Trojaner. Die Einzelne fühlt sich Mächten ausgeliefert , deren widersprüchliche und undurchschaubaren Absichten und Aufträge ihr unverständlich bleiben. In dieser undurchsichtigen Welt gibt es keinen Ansatzpunkt für Widerstand, ja kaum einmal für Empörung, weil allzeit unklar bleibt, was Simulation und was Realität ist.

Ich habe das Buch allerdings anders gelesen: Nämlich weniger als kritische Auseinandersetzung mit „den Verhältnissen“, sondern als Erzählung  über eine bindungsunfähige Frau, die sich selbst fremd ist und bleibt.  Marlene Streeruwitz zeigt Amys Indifferenz auch an ihrer gleichgültigen Haltung  zu einer Restitutionsklage, die ihre Tante gegenüber dem Österreichischen Staat als jüdische Erbengemeinschaft anmelden will. Es geht um ein wertvolles Bild, das einem berühmten Vorfahren genommen wurde. Amys Desinteresse erlebt die Tante als Widerspenstigkeit. Tatsächlich erscheinen Amys Handlungen aus der Außenperspektive bisweilen als widerständig, richten sich jedoch in Wahrheit nicht gegen etwas, sondern entspringen ihrem Unvermögen, sich selbst und ihre Interessen wahrzunehmen; in doppeltem Sinne gedacht: die eigenen Interessen zu vertreten, aber auch, ihrer überhaupt gewahr zu werden.

Dieser Amy durch Marlene Streeruwitz´ Roman zu folgen, ist durchaus schmerzhaft. Streeruwitz erzählt konsequent aus der perspektivlosen und doch so  scharfsichtigen Sicht Amys. Die Erzählung beginnt an einem eisigen Wintertag im Schnee und endet im Frühherbst, wenn die Erde noch trocken ist, aber es schon frisch genug wird, um sich an eine verlorene Windstopperjacke zu erinnern. Amy fährt irrend und verwirrt durch vertraute und doch fremd anmutende Landschaften, trifft die Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle spielen und verlässt sie wieder. Nichts bietet Halt. Amys Blick findet keine mittlere Distanz:  Details werden heran gezoomt, gigantisch vergrößert, ohne Sinn zu ergeben; ihr Blick gleitet über die Landschafen, Spuren suchend, manchmal bleibt er kurz irgendwo hängen, doch ohne etwas zu erkennen: „Im Rückspiegel sah es aus, als zöge sie eine gerade Spur. Das Fahren war aber ein Gerumpel.“ 

Streeruwitz beschreibt mit Amy eine Protagonistin, deren scharfe Beobachtungsgabe mit keinerlei Intentionen verbunden ist, der sich nichts, was sie sieht und hört zu einem schlüssigen Bild fügt. Alle Wahrnehmungen Amis bleiben unverbunde Splitter: Gefühle, Gerüche, Anblicke, Ideen. Und wenn das Geschaute sie zu arg blendet oder das Gehörte zu arg in den Ohren dröhnt,  greift Amy nach der Flasche und wärmt ihr kaltes Innenleben mit Wodka. Streeruwitz bildet dieses verstörte und gestörte Bewusstsein einer jungen Frau in abgebrochenen Sätzen, angefangenen Überlegungen, die nirgendwo hinführen, bloß angedeuteten Gefühlsreaktionen, in Wiederholungsschleifen ab: „Sie war eine Conceptsurferin. Sie stellte sich das Meer vor. Die anderen vor. Die anderen da. Die nannten sie auch lazy. Aber die konnten nicht wissen, dass sie selbst vom Meer nichts mehr erwartete. Die waren alle so sicher, dass das Meer ihnen zu Verfügung sein musste. Dass es eine Welle gab, die ihnen gehörte. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Deshalb ließ sie so viele aus.“

Amy ist eine mutterlose Tochter. Ihre drogensüchtige Mutter hat sie kurz nach der Geburt bei der Großmutter, dem „Mammerl“ abgestellt, die stets überfordert mit dieser Aufgabe war und Amy schließlich weitergegeben hat als Pflegetochter an ein kinderloses, kleinbürgerliches, evangelikales Ehepaar: die Tante Trude und den Onkel Schottola. Die Tante Trude, die an Krebs erkrankt ist und wohl sterben wird, ist Amy der „liebste Mensch“ geworden, ein Mutterersatz, der jedoch die Lücke nicht mehr schließen kann, die früh gerissen wurde. Erst als schwierige, um nicht zu sagen verhaltensauffällige Jugendliche ist Amy zu den Schottolas gekommen. Die gutbürgerliche Dynastie, aus der sie ursprünglich stammt, begründet vom ungenannt bleibenden berühmten jüdischen Vorfahren, wird in der Gegenwart von der geschäftstüchtigen Tante Amys, einer Schwester des hilflosen Wiener Mammerls, in London repräsentiert. Die Männer indes sind fort und werden längst nicht mehr vermisst. Amys Mutter, wie schon das Mammerl, kann oder will den Namen des Vaters ihrer Tochter nicht verraten.

Was Marlene Steeruwitz erzählt, kann eine auch als Pedant zu einer Geschichte lesen, die aus männlicher Perspektive schon viele Male in Prosa verwandelt wurde. Während der bürgerliche und postbürgerliche Roman den Vater-Sohn-Konflikt in allen Varianten bis zur Neige ausgebreitet, die emotionale Abwesenheit des autoritären Vaters beklagt  und dessen Unnahbarkeit und rigide Wertvorstellungen für den Untergang des sensiblen (Künstler-)Sohnes verantwortlich gemacht hat, fehlen ähnlich intensive Darstellungen von Mutter-Tochter-Beziehungen oder das schmerzliche Vermissen der Mutter durch die Tochter noch weitgehend. Die Söhne erschrieben sich aus dem Ur-Konflikt (des bürgerlichen Mannes?) mit dem eigenen Vater, wie wir mehrfach hier und da gelesen haben, zwei Auswege: den (metaphorischen) Vatermord oder die schwindsüchtige Selbstauslöschung (Hanno Buddenbrock, Franz Kafka). Bei Streeruwitz spielen indes die Väter (oder auch die Projektion der Vatersuche auf den Liebhaber) keine Rolle. Hier  ist es  allein die Verweigerung der Mutter, die als schmerzhafte Leerstelle  ins Zentrum des Romans gesetzt ist. Der tiefste Schock, den Amy im Roman erleben wird, ist daher auch zwangsläufig das, was keinem Mann passieren kann: Amy wird ungewollt und nichtsahnend schwanger. Sie muss befürchten, im volltrunkenen Zustand mit irgendjemandem Sex gehabt zu haben. Einer Frau, zeigt Streeruwitz, kann die (post-)moderne Behauptung: "Ich ist ein Anderer " (blabla ;-) , Rimbaud + Lacan) zur grässlichen Realität werden, statt eine Metapher für die  (männliche) Selbstentfremdung zu sein. Was/wer wächst in mir? Amy hat Glück im Unglück (vielleicht). Ihr Körper stößt den Fötus ab.

Die ungeheure Begebenheit, die in Kleists Novelle "Die Marquise von O." geschieht: die Befüllung eines weiblichen Leibes mit einem fremden Wesen durch einen unbekannten Vergewaltiger, ist in der zeitgenössischen Variante der Marlene Streeruwitz nicht im geringsten mehr zu heilen durch „Liebesgefühle“ eines reuigen Sünders, der Frau und Kind „in Ehren zu sich nimmt". Kein Begehren, weder ein romantisches, noch ein idealisierendes richtet sich noch auf  den „Erzeuger“ und seine Möglichkeiten zur „Versöhnung“. Vermisst und ersehnt wird im feministischen Roman der Marlene Steeruwitz allein die Mutter, die niemals auftaucht und die aufzusuchen sich Amy nicht traut.

Es gibt keinen Ausweg für Amy. Keinen Ausweg aus dem Drama der Verlassenheit, das sie seltsam taub und selbst-los zurück gelassen hat. Weder der Muttermord (als Pedant zum Vatermord) noch das Verschwinden in der Krankheit (das männliche Autoren nur zu gern ersatzweise auch ihren fiktiven weiblichen Spiegelbildern angedichtet haben) werden als Auswege angedeutet.  Statt zu töten oder sich selbst zu zerstören, fährt Amy einfach weiter und fort. Sie fährt. Es gibt nur diesen Ort, wo sie sich einigermaßen sicher fühlt: Unterwegs. Im Auto. Am Steuer. Amy ist unterwegs. Und wird es bleiben. Sie ist nur bei sich, wenn sie sich bewegt. Marlene Steeruwitz´ Roman zeigt eine Frau, die nicht auf der Flucht ist, aber auch nie ankommen kann. Sie hat eine Gebärmutter. Sie ist keine Selbstgeburt. Der Mutter aber, die sie geboren hat, ist sie fremd geblieben. Drum kann sie sich nicht finden, nicht einmal suchen. Sie muss halt weiterfahren. Lächelnd. „Care and attention.“

Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin, S. Fischer    € 19,95
Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin, Kindle edition,  € 16,99

3 Kommentare:

  1. Danke für diesen wunderbaren Beitrag!

    Darf ich fragen, wie würdest du dann den Titel interpretieren? Scheint, als ob er der Autorin selbst "angedichtet" werden kann, die ihren LeserInnen durch das Begleiten ihrer Protagonistin quasi Schmerzen bereitet?

    Bei mir bleibt der Eindruck, als ob alles in "Die Schmerzmacherin" einem Kreislauf unterliegt ... und das hast du auch so schön im Post umgesetzt (bin wie immer schwer begeistert). Komme immer noch nicht vom Titel los ... Schmerz und macherin getrennt. Ohne Relation herstellenden Bidnestrich. Dann irritiert mich das "macherin". Ist Amy nicht genau das am Allerwenigsten? Dann ists immerhin kleingeschrieben (keine "Große Macherin" ...)

    Mit vielen Fragezeichen
    und noch mehr Lesefreude an deinem Blog
    das a&o

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  2. Danke :-).
    Über den Titel habe ich auch viel nachgedacht. Ohne ein eindeutiges (?) Ergebnis. Amy macht Schmerzen: den Leser_innen, ihrer Tante, Gregory, den Mitarbeiter_innen und Ausbilder_innen des Sicherheitsunternehmens, den simulierenden oder echten Opfern der geheimdienstlichen Maßnahmen durch ihre (auch moralische) Indifferenz und Unfähigkeit, Aufgaben und Interessen "ernst" zu nehmen, sich "reinzuhängen". Die Frauen im Roman haben Amy eine schmerzliche Wunde zugefügt, die allerdings eher als Betäubung wirkt: die Mutter, die Großmutter, die Tante; lieblose und überforderte Frauen, die sich entziehen. Die Autorin bereitet den Romanfiguren Schmerzen; tötet Gregory, verwundet Gino und verletzt durch die zerrissenen Sätze und losen Enden des Romans die Leser_innen des Romans in ihrer Sehnsucht nach Integrität und Sinnstiftung durch eine "allwissende" Erzählerin. Das Schmerzmachen ist hier weiblich. Jedenfalls.
    Aber das sind alles nur Versuche. So richtig klar ist mir das nicht. Vielleicht, bestimmt ist das Absicht.

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  3. Danke für die zusätzliche (ebenso) runde/ im Rundwanderweg (Schmerzen ;)) Titelinterpretation. Denke auch, dass das vielleichtbestimmt Absicht sein muss :)

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