„Care
and attention“, mit diesen Worten endet Marlene Streeruwitz´ Roman „Die
Schmerzmacherin“. Ihre Heldin lächelt dazu. Man weiß nicht genau, warum. „Pass
auf und sei vorsichtig.“ Niemand
hat auf Amy aufgepasst und sie war nicht vorsichtig (genug). Wird sie es in
Zukunft besser machen? Amy bemüht sich durchaus. Als sie unerwartet eine Fehlgeburt
erleidet, schafft sie es, den Fötusklumpen, der wie ein Stück Leder aussieht,
zu sichern, um ihn auf seine DNA untersuchen zu lassen. In Streeruwitz´ Roman
bringt es Amy jedoch wenig, wenn sie umsichtig und vorsichtig agiert. Aber es hält
sie in Bewegung: Hinter sich sauber machen, nichts liegen lassen, keinen Müll
produzieren, weg fahren. So macht Amy das.
Das
hätte ganz gut passen können - zur
Politik eines Sicherheitsunternehmens, das sich auf jene Aufgaben spezialisiert,
die der moderne Staat outsourct: Folter, Erpressung, Menschenhandel. Aber es
hat nicht gepasst. Amys Beurteilung ist vernichtend. Sogar für dieses Geschäft
fehlt ihr offenbar was. Amy kann akzentfrei Englisch; sie ist sportlich und außergewöhnlich schön. Die Schönheit
ist eine Waffe, wie ihr Förderer Gregory, der Chef des Unternehmens, weiß, aber
das nützt ihr auch nichts. Amy kriegt es nicht hin, so wenig, wie sie ihr
Studium der Betriebswirtschaft hingekriegt hat. Sie träumt ein wenig davon,
eine Surfschule aufzumachen. Surfen kann sie gut, aber im Grunde ist klar,
dass sie auch das nicht hinkriegen würde, so ein Geschäft aufzuziehen. Es fehlt
ihr der nötige Antrieb, die Motivation, ein eigenes Interesse.
Man
kann Marlene Streeruwitz Roman über dieses Dreivierteljahr im Leben der 24jährigen
Österreicherin Amalie, die sich Amy nennen lässt, als eine Parabel auf die gegenwärtigen
Verhältnisse in der paranoiden Sicherheitsgesellschaft lesen: die Umzingelung
durch Überwachungskameras und Abhörsysteme, Datenspeicher und
Computer-Trojaner. Die Einzelne fühlt sich Mächten ausgeliefert , deren
widersprüchliche und undurchschaubaren Absichten und Aufträge ihr unverständlich
bleiben. In dieser undurchsichtigen Welt gibt es keinen Ansatzpunkt für
Widerstand, ja kaum einmal für Empörung, weil allzeit unklar bleibt, was
Simulation und was Realität ist.
Ich
habe das Buch allerdings anders gelesen: Nämlich weniger als kritische
Auseinandersetzung mit „den Verhältnissen“,
sondern als Erzählung über eine bindungsunfähige Frau, die sich selbst fremd ist und bleibt. Marlene Streeruwitz zeigt Amys
Indifferenz auch an ihrer gleichgültigen Haltung zu einer Restitutionsklage, die ihre Tante gegenüber
dem Österreichischen Staat als jüdische Erbengemeinschaft anmelden will. Es
geht um ein wertvolles Bild, das einem berühmten Vorfahren genommen wurde. Amys
Desinteresse erlebt die Tante als Widerspenstigkeit. Tatsächlich erscheinen Amys
Handlungen aus der Außenperspektive bisweilen als widerständig, richten
sich jedoch in Wahrheit nicht gegen etwas, sondern entspringen ihrem Unvermögen,
sich selbst und ihre Interessen wahrzunehmen; in doppeltem Sinne gedacht: die eigenen Interessen zu vertreten, aber auch, ihrer überhaupt gewahr zu werden.
Dieser
Amy durch Marlene Streeruwitz´ Roman zu folgen, ist durchaus schmerzhaft. Streeruwitz
erzählt konsequent aus der perspektivlosen und doch so scharfsichtigen Sicht Amys. Die Erzählung
beginnt an einem eisigen Wintertag im Schnee und endet im Frühherbst, wenn die
Erde noch trocken ist, aber es schon frisch genug wird, um sich an eine verlorene
Windstopperjacke zu erinnern. Amy fährt irrend und verwirrt durch vertraute und
doch fremd anmutende Landschaften, trifft die Menschen, die in ihrem Leben eine
Rolle spielen und verlässt sie wieder. Nichts bietet Halt. Amys Blick findet keine mittlere Distanz: Details werden heran gezoomt, gigantisch vergrößert, ohne
Sinn zu ergeben; ihr Blick gleitet über die Landschafen, Spuren suchend, manchmal
bleibt er kurz irgendwo hängen, doch ohne etwas zu erkennen: „Im Rückspiegel sah es aus, als zöge sie eine
gerade Spur. Das Fahren war aber ein Gerumpel.“
Streeruwitz beschreibt mit Amy eine Protagonistin, deren scharfe Beobachtungsgabe mit keinerlei Intentionen
verbunden ist, der sich nichts, was sie sieht und hört zu einem schlüssigen Bild
fügt. Alle Wahrnehmungen Amis bleiben unverbunde Splitter: Gefühle, Gerüche,
Anblicke, Ideen. Und wenn das Geschaute sie zu arg blendet oder das Gehörte zu
arg in den Ohren dröhnt, greift
Amy nach der Flasche und wärmt ihr kaltes Innenleben mit Wodka. Streeruwitz
bildet dieses verstörte und gestörte Bewusstsein einer jungen Frau in abgebrochenen
Sätzen, angefangenen Überlegungen, die nirgendwo hinführen, bloß angedeuteten Gefühlsreaktionen, in
Wiederholungsschleifen ab: „Sie war eine Conceptsurferin. Sie stellte sich das Meer
vor. Die anderen vor. Die anderen da. Die nannten sie auch lazy. Aber die
konnten nicht wissen, dass sie selbst vom Meer nichts mehr erwartete. Die waren
alle so sicher, dass das Meer ihnen zu Verfügung sein musste. Dass es eine
Welle gab, die ihnen gehörte. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Deshalb ließ
sie so viele aus.“
Amy
ist eine mutterlose Tochter. Ihre drogensüchtige Mutter hat sie kurz
nach der Geburt bei der Großmutter, dem „Mammerl“ abgestellt, die stets überfordert
mit dieser Aufgabe war und Amy schließlich weitergegeben hat als Pflegetochter
an ein kinderloses, kleinbürgerliches, evangelikales Ehepaar: die Tante Trude
und den Onkel Schottola. Die Tante Trude, die an Krebs erkrankt ist und wohl sterben wird,
ist Amy der „liebste Mensch“ geworden, ein Mutterersatz, der jedoch die Lücke nicht mehr
schließen kann, die früh gerissen wurde. Erst als schwierige,
um nicht zu sagen verhaltensauffällige Jugendliche ist Amy zu den Schottolas gekommen. Die gutbürgerliche Dynastie, aus der sie ursprünglich stammt, begründet vom ungenannt bleibenden berühmten
jüdischen Vorfahren, wird in der Gegenwart von der geschäftstüchtigen Tante Amys,
einer Schwester des hilflosen Wiener Mammerls, in London repräsentiert. Die Männer
indes sind fort und werden längst nicht mehr vermisst. Amys Mutter, wie schon
das Mammerl, kann oder will den Namen des Vaters ihrer Tochter nicht
verraten.
Was
Marlene Steeruwitz erzählt, kann eine auch als Pedant zu einer Geschichte lesen,
die aus männlicher Perspektive schon viele Male in Prosa verwandelt wurde. Während der bürgerliche und postbürgerliche
Roman den Vater-Sohn-Konflikt in allen Varianten bis zur Neige ausgebreitet, die emotionale Abwesenheit
des autoritären Vaters beklagt und
dessen Unnahbarkeit und rigide Wertvorstellungen für den Untergang des
sensiblen (Künstler-)Sohnes verantwortlich gemacht hat, fehlen ähnlich intensive
Darstellungen von Mutter-Tochter-Beziehungen oder das
schmerzliche Vermissen der Mutter durch die Tochter noch weitgehend. Die Söhne erschrieben sich
aus dem Ur-Konflikt (des bürgerlichen Mannes?) mit dem eigenen Vater, wie wir mehrfach hier und da gelesen haben, zwei Auswege: den (metaphorischen) Vatermord oder die
schwindsüchtige Selbstauslöschung (Hanno Buddenbrock, Franz Kafka).
Bei Streeruwitz spielen indes die Väter (oder auch die Projektion der
Vatersuche auf den Liebhaber) keine Rolle. Hier ist es allein die Verweigerung
der Mutter, die als
schmerzhafte Leerstelle ins
Zentrum des Romans gesetzt ist. Der tiefste Schock, den Amy im Roman erleben wird, ist daher auch zwangsläufig das, was keinem
Mann passieren kann: Amy wird ungewollt und nichtsahnend schwanger. Sie muss
befürchten, im volltrunkenen Zustand mit irgendjemandem Sex gehabt zu haben.
Einer Frau, zeigt Streeruwitz, kann die (post-)moderne Behauptung: "Ich ist ein
Anderer " (blabla ;-) , Rimbaud + Lacan) zur grässlichen Realität werden, statt eine Metapher für
die (männliche) Selbstentfremdung zu sein. Was/wer
wächst in mir? Amy hat Glück im Unglück (vielleicht). Ihr Körper stößt den
Fötus ab.
Die
ungeheure Begebenheit, die in Kleists Novelle "Die Marquise von O." geschieht:
die Befüllung eines weiblichen Leibes mit einem fremden Wesen durch einen unbekannten
Vergewaltiger, ist in der zeitgenössischen Variante der Marlene Streeruwitz nicht
im geringsten mehr zu heilen durch „Liebesgefühle“ eines reuigen Sünders, der
Frau und Kind „in Ehren zu sich nimmt". Kein Begehren, weder ein romantisches, noch
ein idealisierendes richtet sich noch auf den „Erzeuger“ und seine Möglichkeiten zur „Versöhnung“. Vermisst und ersehnt wird im
feministischen Roman der Marlene Steeruwitz allein die Mutter, die niemals
auftaucht und die aufzusuchen sich Amy nicht traut.
Es gibt keinen Ausweg für Amy. Keinen Ausweg aus dem Drama der Verlassenheit,
das sie seltsam taub und selbst-los zurück gelassen
hat. Weder der Muttermord (als Pedant zum Vatermord) noch das
Verschwinden in der Krankheit (das männliche Autoren nur zu gern ersatzweise auch ihren fiktiven weiblichen Spiegelbildern angedichtet haben) werden als Auswege
angedeutet. Statt zu töten oder
sich selbst zu zerstören, fährt Amy einfach weiter und fort. Sie fährt. Es gibt
nur diesen Ort, wo sie sich einigermaßen sicher fühlt: Unterwegs. Im Auto. Am
Steuer. Amy ist unterwegs. Und wird es bleiben. Sie ist nur bei sich, wenn sie
sich bewegt. Marlene Steeruwitz´ Roman zeigt eine Frau, die nicht auf der Flucht
ist, aber auch nie ankommen kann. Sie hat eine Gebärmutter. Sie ist keine
Selbstgeburt. Der Mutter aber, die sie geboren hat, ist sie fremd geblieben.
Drum kann sie sich nicht finden, nicht einmal suchen. Sie muss halt weiterfahren. Lächelnd.
„Care and attention.“
Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin, S. Fischer € 19,95
Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin, Kindle edition, € 16,99
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Danke für diesen wunderbaren Beitrag!
AntwortenLöschenDarf ich fragen, wie würdest du dann den Titel interpretieren? Scheint, als ob er der Autorin selbst "angedichtet" werden kann, die ihren LeserInnen durch das Begleiten ihrer Protagonistin quasi Schmerzen bereitet?
Bei mir bleibt der Eindruck, als ob alles in "Die Schmerzmacherin" einem Kreislauf unterliegt ... und das hast du auch so schön im Post umgesetzt (bin wie immer schwer begeistert). Komme immer noch nicht vom Titel los ... Schmerz und macherin getrennt. Ohne Relation herstellenden Bidnestrich. Dann irritiert mich das "macherin". Ist Amy nicht genau das am Allerwenigsten? Dann ists immerhin kleingeschrieben (keine "Große Macherin" ...)
Mit vielen Fragezeichen
und noch mehr Lesefreude an deinem Blog
das a&o
Danke :-).
AntwortenLöschenÜber den Titel habe ich auch viel nachgedacht. Ohne ein eindeutiges (?) Ergebnis. Amy macht Schmerzen: den Leser_innen, ihrer Tante, Gregory, den Mitarbeiter_innen und Ausbilder_innen des Sicherheitsunternehmens, den simulierenden oder echten Opfern der geheimdienstlichen Maßnahmen durch ihre (auch moralische) Indifferenz und Unfähigkeit, Aufgaben und Interessen "ernst" zu nehmen, sich "reinzuhängen". Die Frauen im Roman haben Amy eine schmerzliche Wunde zugefügt, die allerdings eher als Betäubung wirkt: die Mutter, die Großmutter, die Tante; lieblose und überforderte Frauen, die sich entziehen. Die Autorin bereitet den Romanfiguren Schmerzen; tötet Gregory, verwundet Gino und verletzt durch die zerrissenen Sätze und losen Enden des Romans die Leser_innen des Romans in ihrer Sehnsucht nach Integrität und Sinnstiftung durch eine "allwissende" Erzählerin. Das Schmerzmachen ist hier weiblich. Jedenfalls.
Aber das sind alles nur Versuche. So richtig klar ist mir das nicht. Vielleicht, bestimmt ist das Absicht.
Danke für die zusätzliche (ebenso) runde/ im Rundwanderweg (Schmerzen ;)) Titelinterpretation. Denke auch, dass das vielleichtbestimmt Absicht sein muss :)
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