Montag, 29. März 2010

DER FEIND IST IN DER BURG (1970)

„Der Feind ist in der Burg.“, schrie der Pfarrer am Tischende.
Vor Schreck ließ ich die Gabel fallen. Mama sah mich von schräg gegenüber mahnend an.
Mitten unter uns ist Jezebel. In einen jeden von Euch fährt er, wenn wir hier nicht fest bleiben.“
„Mama...“, rufe ich quer über den Tisch. Wir Kinder sitzen ganz unten, unserem Alter nach. Weil ich auf meinen kleinen Bruder aufpassen soll, bin ich unter den Jüngsten. Mama legt die Finger an die Lippen.
Er vergiftet unseren Trank, die Sünde fährt in unsere Herzen.“
Ängstlich starre ich auf den roten Traubensaft in meinem Glas. Gift. Er will mich vergiften. Wer? Entschlossen lege ich das Besteck auf den Teller, ignoriere Mamas Blicke, stehe auf und gehe um den ganzen Tisch herum. Mama schaut  entschuldigend nickend in all die Augen rund um sie. Ich muss jetzt wissen, wer uns vergiften will. Mama soll das nicht trinken und Papa auch nicht und Gregor nicht. Wir können nach Hause gehen und selbstgekelterten Apfelsaft trinken, wenn uns hier jemand vergiften will.
Ich stelle mich neben sie, greife ihr in die blonden Locken und ziehe ihr Ohr zu mir heran. „Mama, warum will uns jemand vergiften?“ Mama lächelt gequält. „Ach, s´ Anne, will immer alles ganz genau wissen.“, sagt sie zu ihrer Nachbarin. Sie zieht mich auf ihren Schoß. „Das verstehst du noch nicht, Anne. Es geht ums Abendmahl, was die Großen in der Kirche nehmen. Das kennst Du doch.“ „Der Pfarrer sagt, es ist Gift in meinem Saft.“ „Das meint er nicht so. Guck, er meint, wir müssen fest dran glauben, dass wir den Leib Jesu essen und sein Blut trinken, wenn wir das Abendmahl nehmen.“ Sie stellt mich wieder auf den Boden. „Jetzt geh´ wieder an deinen Platz, Anne.“
An meinem Platz sitze ich ganz still. Rings um mich wird laut geschwatzt, auch der Pfarrer hat sich beruhigt und seine hohe Stimme reiht sich jetzt ein in den Plauderteppich, der mich umgibt. Blutrot sehen Tante Inges Lippen aus, sie kaut an einem Bratenstück. Onkel Heinz hängt ein Fleischfetzen zwischen den Zähnen. Zum Pfarrer rüber traue ich mich kaum zu schauen. Ihm rinnt das Blut übers Kinn. Ich bin so froh, dass ich Papa, der in meiner Reihe sitzt, nicht sehen kann.
Sie essen unseren Herrn Jesu. Sie trinken sein Blut.
Abends kommt Mama – wie jeden Abend - an mein Bett, um mit mir zu beten.
„Mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“
Über meinem Bett hängen die Bilder von Lambarene und Bethel. Der soll nicht in mir wohnen, der Jesus. Ich will den nicht drin haben in mir. Ich falte die Hände über der Decke, aber ich spreche die Worte nicht mit. „Anne?“ Ich schüttele den Kopf. „Willst Du nicht mit mir beten?“ Ich presse die Lippen aufeinander. „Aber Anne. Du machst mich ganz traurig. Und den Herrn Jesu auch.“ Ich drehe den Kopf zur Wand und mache mich steif. Mama glättet meine Decke. „Das ist sehr traurig. Und sehr böse, Anne. Wir sprechen morgen darüber.“ Sie macht das Licht aus.
Ich will den nicht haben, den zerfledderten Jesu. Mein Herz ist nicht rein. Ich neide Kerstin den Kaufladen. Ich habe den Gregor vorgestern gehauen. Ich bin wieder auf die Brücke geklettert und habe unter den Zügen gelegen. Und wenn Kerstin und ich feine Damen spielen, stellen wir uns vor, dass wir schwarze Spitzenunterwäsche tragen und große Brüste haben wie die Frauen im Otto-Katalog im Wäscheteil. Es kommt nicht drauf an, was man tut, sagt der Pfarrer. Schon die Gedanken sind sündig. Die Katholiken machen sich´s leicht, sagt er. Die kaufen sich mit Gebeten frei. Auf so billige Gnade sind wir nicht aus. Wir stellen uns unserer Sündhaftigkeit, sagt der Pfarrer.
„Ganz tief hinein in dein Herz kann er schauen, der Herr Jesus. Dem machst du nichts vor, den kannst du nicht belügen.“
Jetzt schmeiße ich den raus. Die fressen ihn und trinken sein Blut und nachher soll er sich bei mir einnisten, damit keiner es merkt. Mir laufen Tränen über die Wangen. Ich fange sie mit der Zunge auf. So stark bin ich.
„Ich bin klein, mein Herz ist nicht rein. Soll niemand drin wohnen. Ich bleibe allein.“
In der Nacht habe ich einen Alptraum. Ich träume davon, wie der Pfarrer und Tante Inge und Onkel Heinz und Frau Lambert und Doktor Heller und – ja – meine Mutter ihre Zähne in den Leib des toten Jesus schlagen, wie sein Blut ausströmt aus all den Wunden, wie sie es aufschlecken mit ihren rosa Zungen. Ich muss geschrien haben, denn Mama kommt, knipst das Licht an, setzt sich auf meine Bettkante und will mich fest an sich drücken. Ich bin glatschnass geschwitzt und zittere, aber ich schubse sie weg. „Anne.“ In Mamas Augen schimmern Tränen. Ihre Hand streckt sich nach mir, aber sie bleibt mitten in der Luft stocken, als sie meinen Blick sieht, der an ihren Lippen haftet. „Anne.“ Da umarme ich sie ganz fest, aber ich bohre meinen Kopf in ihre Schultern, damit sie mich nicht auf die Wange küssen kann mit ihrem roten Mund.
Jetzt ist der Feind in der Burg. Ich bin da. Gregor sollt ihr nicht kriegen.

5 Kommentare:

  1. Diese Entmystifizierung hat mich meine alte Kommode auf dem Dachboden finden lassen. Ich öffne sie noch nicht, warte auf weitere Melusinengeschichten.

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  2. Auf die Kommode bin i c h gespannt.

    Mal seh´n, welche Geschichten noch aufsteigen...

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  3. Ein Thema, das mich ebenfalls beschäftigt und an dem ich mal, mehr mal weniger heftig arbeite. Nur kommen meine Erfahrungen nicht aus der katholischen, sondern der evangelisch-freikirchlichen Richtung. Bin gespannt auf Weiteres. LG Iris

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  4. Auch dies hier spielt nicht im katholischen Milieu, sondern ist ein später Ausläufer des berühmten Luther-Zwingli-Streits um das Abendmahl.

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