Freitag, 12. März 2010

ZUG UM ZUG (4): DAMMBRUCH (1994)

Unter die Räder gekommen.
Man hat sie ans Bett gefesselt, an die Infusion gekettet. Der Stoff wirkt wie Koffein, beschleunigt die Herzfrequenz, erhöht die Körpertemperatur. Doch soll sie ganz ruhig bleiben. Sie ist das Gefäß für das Baby, ein zerbrechliches Behältnis, das das Baby nicht halten kann. Sie wartet in der Abenddämmerung. Sie wartet im Morgengrauen. Sie weint, sie weint, sie hat Angst, sie steigert sich in die Angst.

Der Mann, den sie liebt, kommt in drei Stunden. Der Mann, den sie liebt, kommt nach drei Stunden und küsst sie auf die Stirn. Dann setzt er sich ans Ende des Bettes auf einen Stuhl. Der Mann, den sie liebt, bleibt eine Viertelstunde. Sie sagt: „Ich verliere mich.“ Er sagt: „Es wird alles gut.“ Er geht. Er geht drei Monate lang eine Viertelstunde später nach Hause. In ihr wächst das Kind, ihr Kind, sein Kind, das lang erwartete Kind.

Am Ende hilft keine Infusion mehr. Es ist soweit. Das ist die Geburt. Sie weiß es. Keiner glaubt ihr. „Das erste Kind. Das dauert Stunden“ Sie weiß es. Sie schreit. Er sagt: „Beruhige dich doch.“ Es kommt, das Baby kommt, sie weiß es. Es wird sterben, wenn keiner auf sie hört. Er glaubt, dass sie verrückt ist. Er glaubt seit Monaten, dass sie verrückt ist. Sie soll still liegen und ein Gefäß sein und ihn arbeiten lassen und nicht anrufen und sagen: „Ich habe Angst.“ Was soll er sagen? Er ist müde.

Dann geht alles sehr schnell. Das Baby kommt. Es kommt zu schnell. Die Ärzte und Hebammen rennen. Sie wird auf eine Bahre geworfen. Sie wird in den OP gerollt. Sie bekommt eine Atemmaske. DAS BABY! „Zu spät.“, schreit der junge Assistent. „Keine Herztöne mehr.“ MEIN BABY! Kein Schrei. Sie haben ein Bündel aus ihr herausgerissen, einen Klumpen Fleisch und Blut. Kein Schrei. Sie rennen mit dem Bündel davon. Der Mann, den sie liebt, sitzt auf einem Stuhl und sagt nichts.

Sie bringen das BABY. Es lebt. Es ist winzig. ER ist schön. Sie legen ihn in ihre Arme. Sie schaut ihn an. Sie kann ihn fühlen. Das ist mein Sohn. Der Mann, den sie liebt, ist hinter ihr. Mit seinem kleinen Finger streicht er dem Baby über den Kopf. Dann kommt die Hebamme. Sie nimmt das Kind fort. Es muss auf die Intensivstation. Es ist zu früh geboren. ICH WILL MIT. Das ist unmöglich. Sie nehmen das Baby weg. Sie sagen, dass sie nicht bewegt werden darf. Sie hat zuviel Blut verloren. Sie soll sich beruhigen. Sie soll sich ausruhen und schlafen. MEIN KIND. Der Mann, den sie liebt, sagt: „Ich bin müde. Ich gehe nach Hause.“ Und geht. 

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