Montag, 8. März 2010

MONADEN (1982)

Von Anfang an war Sex ein Thema. Wir waren 17. Nach ein paar Wochen fragte ich ihn: „Hast Du schon mit jemandem geschlafen?“ „Mit Dir!“ Genau, wir hatten zusammen in seinem Zelt übernachtet. Fast jedes Wochenende waren wir trampend unterwegs:  München, Köln,  Hamburg. Wir wollten sehen, was gespielt wurde in den Bars und Theatern der großen Städte, weg von der Kleinkunst der Provinz, an die wir nicht glaubten. Songs for Drella: „Growing up in a small town...“ Aber diese Platte erschien erst einige Jahre später. Als Warhol schon tot war. Bloß raus hier. Nie hatten wir uns berührt. Aber geschlafen, nebeneinander, miteinander, den Atem des anderen im Nacken gespürt. „Das ist der blödeste Ausdruck überhaupt für Sex. Weil man eben nicht schläft...“ Wir einigten uns darauf nie mehr so darüber zu reden, stattdessen Klartext: Sex haben, ficken, bumsen. Wir waren beide noch jungfräulich. Konnten uns gestehen, wovor man Angst hat: Männer, dass sie keinen hoch kriegen, Frauen, dass man gar nichts dabei fühlt. „Was macht dich an?“ Wenn eine Frau den Kopf in den Nacken legt, die Brüste rausstreckt, wenn sie sich räkelt, sich dehnt. Wenn ein Mann sich vorlehnt, mich an die Wand presst, sehr hart und heftig küsst. Am besten wäre beim ersten Mal jemand, für den man keine Gefühle hat, purer Sex.

Obwohl wir dauernd über Sex sprachen, redeten wir nie darüber, warum wir einander nicht anfassten. Für alle anderen waren wir „das Paar“. Wir standen in den Pausen zusammen. Nach der Schule gingen wir zu ihm oder zu mir. Wir redeten, wir hörten Musik, wir schwiegen. Mike war der erste Mensch, der mich so sehr anzog, dass ich meine Schüchternheit überwand, weil ich ihn unbedingt kennenlernen wollte. Er ist klein, nicht viel größer als ich. Ein schmaler Kopf auf einem schmalen, zarten Körper, ein feines Lächeln, die klügsten Augen. Am schönsten aber sind seine Hände. Es sind die Hände eines Spielers, lange, geschmeidige Finger, Fingernägel wie rosige Muscheln vom Strand. Auch zwanzig Jahre später sind es Mikes Hände, die mich fesseln. Ich sitze immer noch gern still in einem Raum mit ihm, ein Buch lesend, ab und zu aufschauend, seine Finger beobachtend, wie sie die Saiten zupfen.

Damals fragte ich Freunde nach seiner Adresse, ging nach der Schule vorbei, klingelte. Er kam zur Tür, sah mich, lächelte, erstaunt und erfreut. Ich sagte: „Wir sind im selben Musikkurs. Ich will dich kennenlernen.“ Was für ein blöder Anfang. Aber er sagte nicht: „Spinnst Du?“ Er sagte: „Ich wollte dich auch schon die ganze Zeit ansprechen.“ Ich ging rein in sein winziges Zimmer und ich dachte die ganze Zeit: „Hoffentlich kapiert er, dass ich nicht verliebt in ihn bin.“ Wir redeten an diesem Nachmittag über John Cale und den Zauberberg, aber auch darüber wie schön es ist, früh morgens noch vor Sonnenaufgang im See zu schwimmen. Dort trafen wir uns am nächsten Tag und an vielen Tagen und dann jeden Tag und im Winter gingen wir zur Burg hoch und kletterten über die Absperrung in die Ruine, saßen auf dem Turm und blickten auf die Stadt hinunter, die uns beiden zu klein war. Wir hingen einfach immer zusammen rum und waren ein Paar, aber ohne Sex. Wir erzählten uns von unseren unglücklichen Lieben und trösteten uns gegenseitig darüber hinweg, dass wir uns immer wieder in Idioten verliebten.

Manchmal dachte ich darüber nach, warum wir uns so nahe kommen konnten und doch nie etwas passierte. Er findet mich als Frau nicht attraktiv, dachte ich. Und ich fragte mich, was ich selbst empfand. Wenn ich Mikes Körper ansah, dann fand ich ihn schön, aber ich spürte kein Verlangen nach ihm. Sein Körper bewegt sich tänzerisch, fließend, nichts Ruckartiges oder Steifes haftet ihm an, immer aber etwas leicht Zögerliches, Unentschlossenes, stets die Möglichkeit des Rückszugs offen haltend. Es gab Momente, wenn ich früher erwachte als Mike, in denen ich ihn betrachtet und die Sehnsucht spürte, mit den Fingern die Linien seiner Wangen- und Kieferknochen nachzufahren. Aber ich tat es nie.

Nur einmal sprachen wir darüber. Wir waren nach Heidelberg getrampt, um eine gemeinsame Freundin zu besuchen. Sie wohnte im Studentenwohnheim. Bei unserer Ankunft wurden in der Wohnküche Plakate und Bettlaken bemalt. Parteigründung: S.P.R A.K. (Separatistische Partei Rechtloser Anarchisten gegen Karrieristen). Große Sache, Demo ab acht auf dem Dach des Wohnheims. Joints kreisten. Bier floss in Mengen. Für Separatismus jeder Art waren Mike und ich jederzeit zu haben. Schluss mit der Kameraderie. Jeder eine Monade. („Monade“ war in diesem Monat unser Lieblingswort.) „Komm her, meine Monade.“, schrie Mike und zog mich an sich. „Mein Monadismus.“, hauchte ich und küsste ihn auf die Wange. Wir kamen richtig in Fahrt. Die Mischung aus Hasch und Alkohol versetzte uns in Siegesstimmung. Wir kletterten aufs Flachdach, jemand stellte Boxen auf, psychedelische Musik, Flaschen kreisten. „Peace für die Monaden“, „Recht auf Abgrenzung“, „Schönheit vor Geld“. Unsere Freundin Heike küsste sich durch die Reihen. Blieb schließlich an einem Punk-Typ mit grünem Iro hängen. Mike und ich lagen flach auf dem Bauch nebeneinander. „Siehst Du?“ „Ich sehe alles.“ Zwei Stunden später. „Siehst Du noch?“ „Ich sehe alles.“ Irgendwann wurde es dunkel. Irgendwann lief keine Musik mehr. Irgendwann waren alle Flaschen leer. Irgendwann waren wir allein. „Siehst Du noch?“ „Ich sehe nix mehr.“ Ich gab Mike einen Klaps auf den Hintern. „Lass uns runterklettern. Wird kalt hier.“ Wir halfen einander beim Abstieg über den Balkon in Heikes Zimmer, wo wir unsere Isomatten und Schlafsäcke ausgerollt hatten, tasteten uns in der Dunkelheit vor, rollten uns ein.

Und dann ging es los. „Gibs mir.“ „Ich mach dich fertig.“ Stöhnen. Keuchen. Schreie. „Fick mich.“ Heike hatte den Iro mitgenommen. Und trieb es mit ihm auf der Matratze, wenige Zentimeter von Mike entfernt. Ich rollte mich weg. Was jetzt? So tun, also ob ich schon schlafe? Die beiden wurden lauter und heftiger. Rollten auf Mike zu. Der rückte näher an mich heran. Will er was von mir? Wird er jetzt auch geil? Seine Hände auf meinen Schultern. Zart. Seine Mund an meinem Ohr. Was will ich jetzt? „Monade. Lass uns hier rausgehen.“

Wir schleichen uns in unserer Unterwäsche aus dem Zimmer, aus dem Wohnheim, klettern den Hügel hinauf, setzen uns. Morgengrauen. Unsere Knie berühren sich. „Scheiße.“ „Ach was.“ „Ich habe einen Augenblick überlegt...“ „Was?“ „Ob ich dich verführen soll, ob wir...“ „Ich auch, ich habe überlegt, ob ich mich rumdrehe, in deine Arme...“ „Und?“ „Und?“ „Du findest mich als Frau nicht anziehend, oder?“ „Quatsch. Ich liebe dein Gesicht, deine großen Augen, deinen Knabenkörper.“ „Zu kleine Titten.“ „ Gerade richtig – eine Handvoll.“ „Und warum dann...?“ „Bin ich dir zu klein? Nicht kräftig genug?“ „Ich möchte deine zarten Züge immer streicheln...“ „Warum dann...?“ Gleichzeitig sagten wir es: „Ich will dich nicht verlieren.“

Einige Wochen nach dem Besuch in Heidelberg hatten wir beide unseren ersten Sex. Ich kann mich nicht einmal an den Namen des Kerls erinnern oder an sein Gesicht. Es war nicht toll, aber auch nicht schlecht. Mit den nächsten wurde es besser.

Wir tun es nicht. Eine Liebesgeschichte ohne Happy End. Ohne Ende.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen