Über GESTEN
Im Dezember 1991 hoffte ich Vilém Flusser persönlich zu treffen, dessen medientheoretische Arbeiten mich während meines Studiums geprägt hatten. Doch Ende November hörte ich im Radio, dass Flusser an den Folgen eines Autounfalls auf der Rückfahrt von Prag gestorben sei. Ich habe dies – damals wie heute – als eine Geste verstanden. Das war eine Wahl. Ich hätte dies genauso gut, ja vernünftiger und einfacher als kausalen Zusammenhang begreifen können: die Verwicklung in den Autounfall, die Verletzung, deren Folgen, das Versagen der Körperorgane. Aber ich entschied mich in Flussers Tod, der mich zutiefst verstörte, eine Geste zu sehen, deren Bedeutung aufzudecken mir aufgetragen war.
Flusser definiert die „Geste“ als eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, „für die es keine zufriedenstellende Kausalerklärung“ gibt. Diese Definition dehnte ich mir (unzulässig?) aus. Denn ich beschloss, keine Kausalerklärung für Flussers Tod als „zufriedenstellend“ anzuerkennen. Gesten, also, begreife ich mit Flusser als unbestimmte symbolische Bewegungen, deren Gestimmtheit allein der Betrachter entdeckt. In seinem Auge erst wird die Bewegung zur Geste, d.h. sie wird zum Ausdruck dessen, was bewegt. „Ich habe“, sagt der Schauspieler bei Heine, „mit dem Tod in der eigenen Brust den sterbenden Fechter gespielt.“ Ich erkenne mich und meine Gestimmtheit in der Geste des anderen wieder – und hierdurch unterscheide ich die Geste von der puren Reaktion. Die Geste ist eine „symbolische Darstellung“ und „etwas anderes als Vernunft“, die Geste ist, wodurch „die Menschheit ihren Leiden und Handlungen Bedeutung gibt.“
Daher ist es auch keineswegs eine Nivellierung des Bösen, es in der „Geste der Zerstörung“ zu erkennen. Vielmehr kann es, folgt man Flussers Begriffsbestimmung, als Böses überhaupt erst in der Geste erkannt werden. Die gottlose Welt, in der wir leben, ist ihrer Grundtendenz nach entropisch. Sie deformiert sich fortlaufend, wird chaotischer, jeder Akt der Formung ist ein unwahrscheinlicher Ausnahmezustand. „Als innerweltliches Wesen ist der Mensch dieser entropischen Tendenz unterworfen (zum Beispiel muss er sterben). Aber als Subjekt, als ethischer Agent, steht er dieser Tendenz entgegen. Er verneint sie, indem er um sich herum Regeln aufstellt und die Dinge ordnet: indem er ´herstellt´. Die hergestellte Gegenwelt (die ´Kultur´) ist unwahrscheinlich. Was man ´menschlichen Geist´nennt, ist diese Unwahrscheinlichkeit. Das Hergestellte befreit, weil es das zufälligerweise Notwendige vom Menschen weg gegen den Horizont schiebt, und weder Zufall noch Notwendigkeit lassen ja Entscheidungen zu. Aber das Hergestellte stört zugleich, weil es den Entscheidungsspielraum auf regelgeleitete Parameter einschränkt. Weil Hergestelltes stört, gibt es Zerstörer. Und weil Hergestelltes unwahrscheinlich ist, gibt es Destrukteure. Das ist menschlich: die Absicht ist Freiheit.“
Auch die Geste der Zerstörung ist menschlich, indem sie nach Freiheit – diesmal vom Zwang der Kultur (statt der Natur) – strebt. Jedoch ist der Entschluss, das Hergestellte als störend zu setzen, selbst unmenschlich. Denn in ihm „verbündet sich der menschliche Geist mit dem Ungeist der Welt und verrät die Verschwörung des menschlichen Geistes gegen den Ungeist.“ Geschieht dies, schreibt Flusser, ohne Absicht, so ist es diabolisch. Man muss das unterscheiden von anderen Akten der Zerstörung: Zerstörung mit Absicht ist frustrierter Konservativismus, Destruktion mit Absicht ist frustrierte Revolution. Wenn sie zusammenfallen, entsteht frustrierte Arbeit. Solche Gesten sind unrein, aber sie können zu echten revolutionären Arbeitsgesten werden und im Zerstören schaffen. Das Böse jedoch, das selten ist, ist so unmenschlich wie die reine Güte. Es ist pur, weil es keine Absicht kennt. Und daher, daher ist es fürchterlich.
So fürchterlich ist der zufällige Tod. Ich habe Vilém Flusser nicht gekannt. Doch habe ich seine Stimme, die ich aus „Die Schrift“ hörte, geliebt. Die Kontingenz des Todes ist unerträglich. Daher habe ich gewählt und Vilém Flussers Tod als eine Geste verstanden. Er schrieb: „Denn obwohl wir bereits jenseits der Maschinen stehen, sind wir immer noch unfähig, uns ein Leben ohne Arbeit und ohne Bedeutung vorzustellen. Jenseits der Maschinen stehend, stehen wir in einer unvorstellbaren Situation.“ Da standen wir am Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts: der faszinierend kluge Mann und das faszinierte Mädchen, das ich war. Es ginge, gab er uns Hoffnung, um eine Revolution: „Und bei einer Revolution geht es ja immer, letzten Endes um die Freiheit.“ Im November 1991 aber konnte man ahnen, dass wir in eine Phase der Restauration zurückgeschleudert wurden, um diesseits der Maschinen zu bleiben.
Die Freiheit am Horizont halten; das ist der Auftrag: die Geste des Drachensteigens.
Die Freiheit am Horizont halten; das ist der Auftrag: die Geste des Drachensteigens.
„Es gibt Leute, die schreiben, weil sie der Meinung sind, dass das noch einen Sinn hat. Und Leute, die nicht mehr schreiben, sondern in den Kindergarten zurückgehen. Und dann gibt es Leute, die schreiben, obwohl sie wissen, dass das keinen Sinn hat. Dieser Essay ist zwar an den ersten und zweiten Typ von Leuten gerichtet, aber dem dritten gewidmet.“ (aus: Vilem Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?)
(Dies ist der erste Teil meiner Antwort auf die Kommentare zu meinem Text "Über das Böse. Es gibt den Teufel" Ich versuche den Begriff der Geste ( Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie) zu erläutern, der, wie ich meine, zu Missverständnissen führte. Über "Das Böse" aus theologischer Sicht, den Sündenfall und - so Gott will :-), - die Erlösung werde ich später im 2. Teil der Recht-Fertigung schreiben.)
also wenn du damit klar kommst melusine bitte, klar.
AntwortenLöschenich befinde mich in der geste des zerstörens, der geste des fickens, der geste des sterbens, der geste des rausches, der geste des autofahrens, der geste der geste/n vs
ich zerstöre, ich ficke, ich sterbe, ichbinberauscht, ich fahr auto ich gestikuliere.
ich spiele also laut flusser anstatt echt zu sein ?
vielleicht aber letztlich doch nicht :
ich mache einen verbalen umweg anhand flusser, anders kann ich das nicht erkennen, welcher allerdings mit der allgemein-gesellschaftlichen konnotation des wortes geste ( laut wiki etc ) kollidiert.
dieser umweg kann mir intellektuellen zeitvertreib gewähren, wird er mit jemand anderem diskursiv besprochen.
an einer zerstörung ( welcher dimension auch immer ) selbst ändert das nichts.
oder doch ?
werde ich durch diese spracherweiterung verantwortungsvoller ?
kann ich mir nicht vorstellen.
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wie gott bei herbst sagte - es gibt nichts böses,
so sage ich das fast auch.
wenn es aber nichts böses gibt, was ist dann das grausame - egal ob absichtsvoll oder unbeabsichtigt verzapft ?
es ist krank.
ich glaube nicht an ein unbewusstes übrigens.
allenfalls an blackouts oder so etwas.
alles andere ist bewusst mittlerweile.
man darfs sich bewusst sein dass man einen schwanz oder eine muschi hat, man darf sich bewusst sein, dass da was feucht oder steif wird, man darf zum hass stehen wie zur liebe usw.
das unbewusste ist mittlerweile als bewusstsein salonfähig geworden.
naja soweit zeichne ich das ersteinmal weiter und ansatzweise vielleicht mit.
danke für die kleine unterrichtsstunde ad flusser.
sorry für den etwas gehetzten ton, melusine.
ich weiss nicht ob ich das dialektik ding noch anbetrachten muss.
hab mein philosophisches (laien)interesse eigentlich ersteinmal auf eis gelegt.
p.s.
dadurch dass ich grausame handlungen als krank einstufe könnte ich jetzt stigmatisieren, würde ich zur krankheit ein diskriminierendes verhältnis haben.
habe ich nicht.
ich könnte, hätte ich eine art diktatorische macht, alles zu einer grausamen handlung erklären
und womöglich wegsperren oder gar vernichten wollen was mir nicht passt.
naja - möglich ist unter ungünstigsten bedingungen ( diktatur ) alles.
ich könnte vielleicht die sexualität als akt der grausamkeit des mannes gegenüber der frau per se,
also egal innerhalb welcher sexualpraktik auch immer - hinstellen und verbieten wollen.
hm tu ich nicht und ich wüsste auch nicht wieviele da dabei wären.
Naja – auf deine interpretation des sündenfalles bin ich echt gespannt.
Irgendwie fehlte bei mir gestern ein logisches versatzstück, so intuitiv nachbetrachtet.
@lobster Wie gewünscht habe ich die ersten drei Kommentare entfernt. Über den Sündenfall werde ich noch schreiben; ich arbeite daran. Dass Problem ist richtig erkannt, denke ich: Erklärst du die böse Tat grundsätzlich zum Ausfluss einer Krankheit, dann werden wir totalitäre Verhältnisse erleben: Gesundheitsdiktatur. Es geht hier - neben aller Philosophie - nämlich tatsächlich auch um Politik, um die Verteidigung der Idee der Freiheit, was für mich im Bild der Geste des Drachensteigens gezeigt ist.
AntwortenLöschenDie Geste, wie ich sie mit Flusser verstehen möchte, ist kein Vorspiegelung: Es wird dargestellt, was i s t (oder gefühlt, gedacht wird). Insofern geht es nicht um echt oder unecht, sondern um Stummheit oder Ausdruck (sogar beim Geschlechtsverkehr :-).)
also ich verstehe auch soweit flussers gedankengänge hinsichtlich des bösen, welches vor dem menschsein schon existiert als unabsichtsvolles.
AntwortenLöschenmit dem menschen kommt die absicht ins spiel und damit moralische instanzen, oder ?
das unabsichtsvolle grausame ist unmenschlich.
das absichtsvolle grausame ist rational begründbar und damit menschlich.
das primat der begründen-könennenden ratio jedweder motiviertheit bishin zur kompletten perversion ( genozid )gegenüber der unbegründenden natur - des animalisch-triebhaft-instinktiven usw.
naja ist halt erstmal sehr abstrakt, ich vermisse werte inkl. derer setzungen, fest-und fort- oder umschreibungen.
also da fängt es ja doch erst an.
gut melusine - korrigiere mich bitte falls ich da schon was in deiner oder flussers hinsicht missverstand und hab einen schönen abend -
ich wart gern noch ab, bis deine interpretation der schöpfungsgeschichte raus ist - meine version hier wurde von aikmaier heut ja auf den boden der realen überliefertheit qua AT oder so gestellt und damit etwas demontiert.
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