Sonntag, 20. Juni 2010

Tagebuch (4)

SCHLAF, KINDCHEN, SCHLAF


Zum ersten Mal seit Wochen habe ich diese Nacht durchgeschlafen. "Insomnia", behauptet der ferne Freund, "is a modern disease." Ich kann nicht sagen, ob das wahr ist. Tatsächlich schreiben Frauenzeitschriften in regelmäßigen Abständen, dass die Schlaflosigkeit zunehme. Die verkünden aber gleichermaßen, dass Darmkrankheiten, Migräne und Hautunreinheiten sich ausbreiten. Immer schon war mir klar, dass diese "Nachrichten" durch die Gesundheitsindustrie gestreut werden: Kein Zufall, dass stets Krankheiten "promotet" werden, deren Symptome diffus sind und daher ganz leicht zu produzieren, für jede, die nur ein klein wenig suggestiv ist. Ich bin das im Übermaß. Erzähl´ mir, dass du dir den linken Fuß verstaucht hast und ich kann nur noch mit dem rechten auftreten.

Die Schlaflosigkeit indessen, unter der ich leide (gelitten habe, drücke ich einmal hoffnungsvoll aus), treibt Blüten hervor: schöne, wuchtig-sumpfige Orchideen, aber auch nachtviolette, kobragrüne, fleischfressende Darlingtonia, die mich verzehren. Die Tage taucht sie in ein ruhelos schmerzendes Gelb, durch das ich mich schlängle. "Ich bin voller Energie", bete ich mein Mantra am Morgen nach der durchwachten Nacht. 

Es wirkt. Der Geist vermag den Körper zu beherrschen. Ich wirke. Es gelingt, die Aufgaben, die der Tag und "das Amt" und die Familie stellen, zu erfüllen; nicht immer, ach meist nicht, in der gebotenen Ruhe. "Warum bist du so hektisch?", fragte mich die Freundin noch in der letzten Woche. Gestern Abend sahen wir uns und ich glaube, ich schien ihr ruhiger und fröhlicher als zuvor. 

Gerne wüsste ich die Gründe, warum der Schlaf mich in der letzen Nacht suchte und fand. Wüsste ich sie, so könnte ich ihn fangen, bevor ich mich hinlegte und jede Nacht in seinen Armen ruhen. Doch kann ich nur spekulieren. War es, weil ich mich gestern Nacht nach langer Zeit wieder einmal tragen ließ? Ich liebe es getragen zu werden, hochgehoben, herumgehoben, hingelegt... Wie ein Kind. Zu dem Kind kam der Schlaf stets ungefragt. "Wenn sie mal schläft, kannst du eine Eisenbahn über sie wegrollen lassen.", sagte mein Vater. Regression ist gefährlich - und schön. 

"Ich bin voller Energie". Heute. Denn ich bin zum ersten Mal seit Wochen ausgeschlafen!

2 Kommentare:

  1. Das ist mir alles sehr vertraut. Noch hinzu kommt häufig das nicht schlafen wollen, das Festhaltens an den Taggedanken, die nachts so eine andere, eigene Qualität bekommen. Vielleicht würde ich auch nur gerne die Tageszeiten tauschen, tagsüber Stunden schlafen. In Gedanken leben und sie formen geht irgendwie am besten in Dunkelheit und Ruhe.
    Dennoch wünsche ich dir, dass diese Erfahrung des endlich mal wieder ausgeschlafen seins kein Einzelfall bleibt.
    LG Iris

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  2. Heute schon, liebe Iris, brauchte ich wieder mein Yoga-Mantra...Ja, es ist nicht fair, dass die Frühaufsteher es geschafft haben, ihren Rhythmus uns allen aufzuzwingen. Müsste ich morgens nicht so früh raus, dann fände ich vielleicht genügend Schlaf.
    Von Nacht-Eule zu Nacht-Blume, lieben Gruß
    Melusine

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