Freitag, 16. Juli 2010

DER ANDERE (Teil II)

Der erste Teil der Erzählung "Der Andere" ("Die Nachricht") findet sich hier.


Die Schlacht









Vera beugte sich über das Waschbecken und schob ihr Gesicht ganz dicht an den Spiegel.  Dr. Klima hatte zwei Einzelzimmer in einem Hotel nahe des Flughafens in Schwechat reserviert, so dass sie am nächsten Morgen Valentin abholen und dann direkt weiter nach Zlin fahren konnten. Die Distanz zum Spiegel vergrößernd suchte sie ihren Blick. Du siehst gut aus, Vera, dachte sie. Vera Veverka-Binse sieht gut aus am Todestag ihres Vaters. Vera lächelte sich im Spiegel zu. Vera Veverka-Binse freut sich darauf, am Todestag ihres Vaters mit einem anderen Mann als dem eigenen essen zu gehen. Sie verzog den Mund und streckte sich die Zunge heraus. 

In der Lobby wartete Klima schon. Sie schaute sich um. Es war ein braves kleines Privathotel, gepflegt, aber ohne die geölte Maschinerie der großen Kettenhotels. Durch eine verglaste Tür ging es rechts in das Restaurant, das gutbürgerlich mit viel Eichenholz eingerichtet war. Klima hatte ihre Verwirrung bei der Nennung des Namens Jakub bemerkt. Sicher habe ihr Vater ihr doch von seinem Bruder erzählt. Dass sie dessen Namen noch nie gehört hatte, konnte er zunächst nicht glauben. „Mein Vater“, sagte sie, „hat nie über sein Leben in Zlin gesprochen.“ Er hatte mit seinen beiden Kindern nie ein Wort Tschechisch geredet. Warum, überlegte Vera, haben wir ihn nie gefragt? Mein Vater war immer lustig. Aber mein Vater hat uns nie etwas über sich erzählt. Er hatte selten „Ich“ gesagt, fiel ihr ein. Er sagte „Man...“ Er sagte: „Verrra Veverrrka. Da hatte man einen guten Einfall, rrrichtig, Verra?“ Er trat wie ein Besucher in das Familienleben, wenn er nach Hause kam. War er im Studio und zeichnete, leuchtete eine rote Lampe über der Tür. „Zutrritt verboten. Verra  und Valentin. Bei Zuwiderrrhandlung  schändlicherrr Tod.“ Manchmal freilich rief er sie herein, nahm sie auf den Schoß und zeigte ihr eine Bilderfolge. „Gefällt dir das, Vera?“ Sie hatte immer ja gesagt und es war nie gelogen.

Wieder hielt Klima Vera leicht am Ellenbogen und führte sie an einen Tisch im hinteren Teil des Restaurants, wo es ruhig war. Veras erste Reaktion auf diese selbstverständliche Übernahme der Führung durch Klima war Verärgerung. Ihr Körper versteifte sich, sie wollte sich lösen. Doch dann entschied sie, sich für diesen Abend zu entspannen. Dieser Mann, dachte sie, weiß, was er will und was gut für dich ist, lass ihn mal machen, lehn dich mal zurück. Dein Vater ist heute gestorben. Das ist eine gute Ausrede, verspottete sie sich selbst.  Aber ist wahr: Am Todestag ihres Vaters fühlt sich Vera Veverka-Binse in der Gegenwart Jan Klimas wohler als sie sich seit langem gefühlt hat.

Die Bestellung war schnell aufgegeben. Der Kellner empfahl das Original Wiener Schnitzel („Kalbsfleisch, selbstverständlich“) und Klima bestellte einen Wein aus dem Burgenland dazu.  Eine Flasche Wasser stand schon auf dem Tisch. „Erzählen Sie mir von Jakub.“, bat sie. Klima sah ihr zum ersten Mal in die Augen: „Im Haus ihres Vaters in Zlin hängt im Treppenaufgang Jakubs Porträt, wie ihr Vater ihn 1967 gemalt hat.“ Er wusste, dass sie nie in Zlin gewesen war. Ihr Vater hatte seit  Sommer 1993 überwiegend in Zlin gelebt; 2001 hatte er das Haus in München verkauft. 17 Jahre hatte ihr Vater wieder in Mähren gelebt und weder Vera noch Valentin hatten ihn je dort besucht.  Sie schüttelte den Kopf. „Wir haben unseren Vater in den letzten Jahren meist in Frankfurt getroffen.“„Jakub war der jüngere Bruder Ihres Vaters. Sie arbeiteten zusammen. Pawel zeichnete, Jakub schrieb. Später entwickelten sie gemeinsam Zeichentrickfilme.“ Vera nickte: „Ich weiß, dass mein Vater sich als Trickfilmer schon einen Namen gemacht hatte, bevor er nach Deutschland kam.“ „Besonders eine Serie war Kult: Fips a Sova. Fips und Eule heißt das auf Deutsch. Fips arbeitet in einer Schuhfabrik; Sova, die weise Eule, wohnt hinter Fips Haus in einem Baum. Wenn irgendwas schief läuft in Fips Leben – und es läuft immer was schief, dann geht Fips hinters Haus und fragt Eule.  Haben Sie wirklich nie eine Folge gesehen?“ Wieder schüttelte Vera den Kopf. „Zunächst erschienen die Bilderfolgen täglich in einer Zeitung. Später drehten Ihr Vater und Jakub Zeichentrickfilme mit Fips und Sova.“ „Fips a Sova“, widerholte Vera. Sie war sicher, dass sie noch nie von dieser Serie gehört hatte. Klima legte eine Karte vor ihr auf den Tisch: zwei stilisierte Eichhörnchen, miteinander um eine Nuss ringend, ein Schriftzug: Nadace Veverky. „Die kenne ich.“, rief sie aufgeregt. Sie fühlte sich fast wie ein kleines Mädchen in der Schule, das endlich eine Frage gestellt bekommt, die es beantworten kann. „Die kommen in einem kleinen Film vor, den mein Vater für Valentin und mich gemacht hat. Sie kämpfen um die Nuss, flitzen die Bäume hoch und runter, jagen sich, mal hat der eine sie, mal der andere und schließlich fällt sie ihnen in einen Teich. Dann schauen sie sich an und lachen, dass die Bäuche wackeln.“ „Es ist das Logo der Stiftung. “ „Der Stiftung?“ Dies war offenbar der Tag der Überraschungen: ein Vater stirbt unerwartet, ein Onkel taucht auf und nun auch noch die Eichhörnchen-Stiftung. Klima schenkte ihr Wein nach. „Jan, darf ich Sie etwas fragen?“ Er nickte ihr aufmunternd zu. „Ich spüre, wie viel ihnen das bedeutet: mein Vater, Jakub, die Stiftung. Aber Sie müssen noch ein Kind gewesen sein, als Fips und Sova erschienen.“ Klima lächelte. „Ich bin 1962 geboren. Sie haben Recht. Ich kann mich an Jakub nur vage erinnern.“ „Jakub ist tot?“ Sie hatte das eigentlich die ganze Zeit über gewusst. Den Onkel, von dessen Existenz sie erst heute erfahren hatte, würde sie nie kennenlernen. „Er verschwand im August 1968. Er wurde zum letzen Mal in Brünn gesehen. Ein russischer Panzer. Sie hielten, sprachen Jakub an, bedrohten ihn mit der Waffe, zwangen ihn in den Panzer.“ „Mein Vater...“ „Ihr Vater war am 15. August nach München gereist, weil BavariaFilm Interesse an einigen Folgen von Fips a Sova hatte.“ „Er konnte nicht mehr zurück nach dem Einmarsch der Russen?“ „Nein, konnte er nicht. Alle Verbindungen brachen ab. Meine Eltern waren eng mit  Veverkas befreundet. Frau Veverka, Tante Jitka für mich, verlor gleichzeitig beide Söhne. Verstehen Sie?“ Vera nickte, aber natürlich verstand sie es nicht.

Das Essen kam. Die Schnitzel waren so, wie sie sein sollten. „Tante Jitka ist 1982 gestorben.“ Meine Oma, dachte Vera. Auch von ihr hat er nie erzählt. Mein Vater war für wenige Jahre Gast in meinem Leben. Dann ging er in sein eigenes zurück. Klima erzählte Vera, wie sehr seine, Jan Klimas Mutter, sich gefreut hatte, als Pawel wieder in Zlin auftauchte. Er hatte das Elternhaus renoviert und war dort eingezogen. Es hörte sich gut an, wie Klima von ihrem Vater sprach, und es machte sie immer wütender, je länger sie zuhörte. Sie fragte sich, was dieser andere Mann, von dem Klima erzählte, sie eigentlich anginge, dieser Mann, den sie offensichtlich nicht gekannt hatte und in dessen Leben sie nicht gefehlt hatte. Plötzlich stockte Klimas Redefluss. Er war am Todestag ihres Vaters angekommen, am Morgen des heutigen Tages. „Ich holte ihn ab. Wir fuhren nach Brünn. Ein lang vereinbarter Termin mit Brünner Honoratioren, die er zur Beteiligung an der Stiftung gewinnen wollte. Er war vergnügt. Er machte Witze. Er zeigte mir das Logo, das er gerade entworfen hatte. Erzählte auch von dem Film, den er für Sie und Ihren Bruder gemacht hatte. Und dann...Er kippte einfach vom Stuhl.“ Klima war ganz leise geworden. Sie sah die Tränen in seinen Augen. Vera Veverka-Binse muss am Todestag ihres Vaters einen fremden Mann trösten, der die Tränen um ihren Vater weint, die ihr fehlen. Sie berührte mit ihrer rechten Hand kurz seinen linken Handrücken. „Es tut mir leid, Jan. Sie haben ihn sehr gemocht, nicht wahr?“ „Er war mir ein zweiter Vater.“ Mir war er kein Vater, hätte sie am liebsten gesagt. Mir war er fremd, der Tscheche. „Ich bin jetzt doch recht müde.“, sagte sie und erhob sich. „Entschuldigen Sie mich.“ Sie war sicher, dass er ihre Kälte spürte. Er war verletzt. Er hatte der Tochter des Mannes, den er wie einen Vater geliebt hatte, seinen Schmerz offenbart und gehofft ihn mit ihr teilen zu können. „Gute Nacht.“

Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück hinunter kam, fühlte sie sich unbehaglich. Sie wollte sich nicht rechtfertigen vor diesem Fremden, dem kein Urteil zustand, weil er den Vater, der ihr gestorben war, nicht gekannt hatte. Gleichzeitig mochte sie ihn sehr, ja mehr als das, denn sie spürte sich selbst in seiner Gegenwart deutlicher als sonst. Klima saß schon am Tisch, als sie eintrat und las in einer Zeitung. Er stand auf und deutete eine Verbeugung an. „Guten Morgen.“ Sie suchte seinen Blick, las keinen Vorwurf darin, nur Vorsicht und Aufmerksamkeit. „Guten Morgen, Jan. Und Danke noch einmal für den gestrigen Abend. Sie haben so nett von meinem Vater gesprochen.“ Er überging das, wiederholte den Ankunftstermin von Valentins Flugzeug und zeigte ihr auf einer Karte die Strecke nach Zlin. „Wir werden etwa drei Stunden brauchen, schätze ich. Ich denke, dass die Straßen geräumt sind.“ Es war Januar und in der vergangenen Woche hatte es in ganz Mitteleuropa unaufhörlich geschneit. Erst seit zwei Tagen hatte das Schneetreiben aufgehört. In Städten wie Hamburg und Wien hatte sich die weiße Pracht an den Straßenrändern schon wieder in schmutzigen gelbgrauen Matsch verwandelt. Aber hier in Schwechat lag der Schnee meterhoch wie Zuckerguß auf den Dächern und die festgefahrene Schneefläche auf den Straßen dämpfte alle Geräusche. 

Schon auf dem Weg zum Flughafen rief Vera auf dem Mobilfon Jochen an, der so früh am Morgen noch zu Hause war: „Ich habe nichts zum Anziehen dabei für die Beerdigung, bringst du mir was mit? Wie geht es Jana? Schläft sie noch?“ Jana schlafe noch, es gehe ihr gut, sie könne den Tod ihres Opas nicht wirklich begreifen, ja, er werde ihr das schwarze Kostüm mitbringen. Wieder spürte sie etwas Zögerliches in seiner Stimme, aber sie beschloss es zu ignorieren.

Valentins Maschine landete ebenso pünktlich wie die ihre gestern. Scheinbar hatte sich der Flugverkehr nach dem Schneechaos der letzten Woche wieder vollständig normalisiert. Ihr Bruder, groß und schlaksig, kam mit einem winzigen Bordcase in der einen Hand und der riesigen Kameratasche an der anderen Schulter aus der Schiebetür. Sie winkte und ging rasch auf ihn zu. Sie sahen sich kurz an, ausdruckslos, wie ihr schien, deuteten auch eine Umarmung nur an, da Valentin so arg bepackt war. Sie sah, dass er nach Worten suchte, beinahe schon den Mund öffnete, aber ihn dann wieder schloss. Wir haben uns zum Tod unseres Vaters nichts zu sagen, dachte sie.  Darin immerhin sind wir gut in unserer Familie: Wenn wir uns nichts zu sagen haben, dann tun wir es auch nicht.

Die Straßen waren frei. Vera hatte auf dem Rücksitz hinter Valentin Platz genommen, so konnte sie Klimas Profil besser betrachten, während er Valentin in groben Zügen erzählte, was er ihr schon gestern Abend gesagt hatte. „Jakub. Onkel Jakub.“ Valentin drehte sich halb im Sitz zu Vera herum. „Hast du von Jakub gewusst?“ „Nein.“ Sie fuhren über die Prater-Brücke und dann durch den  Hirschstetten-Tunnel. Vera lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Klima sprach jetzt vom Trauergottesdienst, der für übermorgen geplant war. Valentin fragte nach den Kosten für Sarg, Blumen, Sargträger etc.; aber Klima überging diese Frage.  Vera überlegte laut: „Ob unser Vater eine kirchliche Beerdigung gewollt hätte?“ „Ihr Vater ging jeden Sonntag zur Kirche.“  Sie war kein einziges Mal im Leben mit ihrem Vater in einem Gottesdienst gewesen. „War unser Vater katholisch?“, fragte Valentin und drehte sich erneut auf dem Sitz um. „Woher soll ich das wissen“, fauchte sie. Allmählich fragte sie sich, wozu Valentin und sie sich überhaupt auf diese Reise begeben hatten. Der Mann, der in Zlin beerdigt wurde, war ein Anderer, nicht ihr Vater, sie kannten diesen Mann überhaupt nicht. Klima fuhr ruhig, aber zügig. Er lachte: „Allerdings schlief er jedes Mal ein. Er setzte sich immer ganz vorn direkt vor den Altar, so dass nur der Pfarrer das merken konnte. Und meine Aufgabe war es, ihn zum Aufstehen und Knien jeweils zu wecken.“

Dann schwiegen sie. Vera ahnte, dass Valentin ebenso wie ihr klar wurde, wie wenig sie beide dort in Zlin zu suchen hatten. Diese Reise hatten sie völlig überstürzt angetreten, hatten sich den Plänen Klimas unterworfen, ohne zu überlegen.  Sie fuhren durch die runden Hügel des Weinviertels, die weiß schimmernd in der Mittagssonne lagen und zwischen die sich die kleinen Winzerdörfer mit ihren flachen gedrungen Häusern drängten. Gelegentlich musste Klima die Geschwindigkeit drosseln, weil die Schnellstraße nach Brünn noch nicht überall ausgebaut war. Schließlich erreichten sie die tschechische Grenze, wo der Beamte sie, sogar ohne die Pässe zu kontrollieren, einfach durchwinkte,  nachdem er dem Fahrer ihres Wagens kurz freundlich zugenickt hatte. Klima war hier offenbar bekannt. Valentin erkundigte sich nach den Breitstraßendörfern, die typisch für diese Gegend waren. Tatsächlich hatten die meisten ihren Charakter bewahrt, waren sie doch 40 Jahre zwar einem stetigen Verfall ausgesetzt gewesen, jedoch nicht den hektischen Veränderungen unaufhaltsamen Wachstums. „Es ist schön hier“, sagte Vera. „Erinnert mich an den Film ´Ich denke oft an Piroschka.´“ „Das ist aber in Ungarn.“, sagte Klima. „Und viel flacher“, ergänzte Valentin. Die ersten Ausläufer Brünns wirkten weniger anziehend, hässliche Massenwohnsiedlungen prägten das Bild. In der Innenstadt jedoch staunten sie, wie gut die Altstadt restauriert war und in neuem k.u.k.-Glanz erstrahlte. Hinter Brünn wurde die winterweiße Landschaft noch pittoresker und stiller. Vera entdeckte die Hinweisschilder auf die Schlacht von Austerlitz als erste. „Valentin, weißt du noch, wie wir die Dreikaiserschlacht mit deinen kleinen Plastiksoldaten nachgebaut haben?“ „Papa hat uns die Kulisssen gemalt.“ „Das Schloss, stimmt.“  „Jan, können wir uns das kurz anschauen? Haben wir soviel Zeit?“ Klima nickte. „Sicher.“ Er bog ab und fuhr auf den Parkplatz der Gedenkstätte. Er war fast leer. Vera sprang als erste aus dem Wagen. Die Luft war kalt und trocken, die Sonne strahlte über das flache Feld. „Dort hinten geht´s zum Friedensmahnmal auf dem Pratzeberg.“ „Da wurde die Schlacht entschieden, stimmts?“ „Und von dort auf dem Hügel, wo jetzt die kleine Kapelle steht, dirigierte Napoleon das Geschehen.“ Die frische Luft, der strahlende Himmel, das glänzende Weiß machten Vera übermütig. Sie beschleunigte ihre Schritte, verfiel in Trab, wirbelte herum. Klima und Valentin waren zurück geblieben. Sie lief ihnen wieder entgegen, bückte sich und formte einen Schneeball. „He, Valentin“, schrie sie und warf ihm den Ball an die Brust. Der Schnee tropfte ab, aber einige Flocken blieben auf Valentins schwarzer Jacke hängen. „Das wirst du bereuen.“, schrie der und ging zum Gegenangriff über. Vera wich dem Ball ihres Bruders geschickt aus. Sie sah zu Klima hinüber. Er lachte. Sie bückte sich, formte einen neuen Ball und warf ihn ab, nicht ins Gesicht, das noch nicht, aber an den linken Arm. Da wurde sie von einem Ball Valentins an der rechten Backe getroffen. Schnee drang zwischen ihre Lippen. Sie schleckte ihn mit der Zunge weg. „Warte nur, kleiner Bruder.“, rief sie und versuchte sich auf die Schnelle einen kleinen Vorrat an Schneebällen anzulegen. Als sie aufblickte, sah sie, dass Jan auf die gleiche Idee gekommen war. Gerade richtete er sich auf und zielte in ihre Richtung. Sie duckte sich. „Daneben.“ „Der nächste nicht.“ Er rückte näher. Von der anderen Seite warf Valentin einen Ball, der sie voll am linken Hinterkopf erwischte. „Das ist gemein, zwei gegen eine.“ „Jeder gegen jeden.“ Valentin warf den nächsten Ball auf Jan. Der hatte sich inzwischen näher an Vera herangepirscht. Sie nutzte das aus und ließ von unten eine Schneewolke auf ihn los, indem sie mit beiden Händen in den Schnee fasste und  ihn in seine Richtung wirbelte. Dann drehte sie sich um und rannte davon. Ihr  Atem erzeugte kleine Wölkchen vor ihrem Mund. Hinter sich hörte sie Jan folgen. Sie drehte sich abrupt um und er konnte gerade noch abstoppen, um nicht in sie hineinzulaufen. Sie waren beide außer Puste. In Veras Haar hing der Schnee, Jans hellblaue Jacke war vorne nass, wo ein dicker Schneeball von Valentin ihn getroffen hatte. So nah waren sie sich noch nicht gewesen. Sie fühlte die Wärme seines Atems auf ihrem Gesicht. Da war der Impuls, sich gegen seine Schultern zu lehnen. Sie atmete heftiger, sie merkte, das war hörbar. Sie hielt den Blick auf sein Kinn gerichtet. Nur nicht hoch schauen. „Vera“, er hob den Arm, als wolle er sie festhalten. Den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Nicht jetzt. Nicht jetzt.  Ne ted´. Sie tauchte unter seinem halb erhobenen Arm durch, rannte auf Valentin zu, in Valentin hinein. „Jetzt zeige ich´s dir, Brüderchen.“ Sie versuchte in den Schnee zu langen, um Valentins Gesicht damit abzureiben. Der hielt ihren Arm fest, stopfte ihr mit der anderen eine Ladung Schnee in den Ausschnitt. „Du Schwein.“, schrie sie. Eisig floss das Schmelzwasser bis zu ihrem Nabel. Jetzt wurde es ernst. Sie stieß Valentin auf den Boden, warf sich auf ihn. Er wehrte sich.

-Weil er immer dich auf den Schoß genommen hat..
- Nie hast du dich getraut, was zu sagen.
- Der ist einfach abgehauen, als es ernst wurde.
- Der Krebs hat sich in den Körper von Mama gefressen und er war weg.
- Immer nur ausweichen.
- Nur gewartet hat er, dass sie tot ist, damit er nach Tschechien abhauen kann.
-Immer weg war er.
-Der hat uns alles verheimlicht...
-Mama. Verdammt. Mama.
-Papa. Warum hat du uns verlassen?
- Dich hat er immer mehr geliebt.
- Die Prinzessin.
- Der Genie-Sohn. Der Top-Fotograf.
- Er hat uns nie gewollt.
- Papa.

Sie kämpften miteinander wie Kleinkinder. Kein Wort hörte Klima sie sprechen. Nur das verbissene Keuchen. Vera stieß ihrem Bruder den Kopf in die Brust. Der verdrehte ihr die Arme auf dem Rücken und warf sie hintenüber. Jetzt war er oben auf. Sie zappelte verzweifelt, trat ihn zwischen die Beine. Sie wälzten sich hasserfüllt im Schnee. Es war abgesehen vom Keuchen der Geschwister ganz still auf dem Schlachtfeld von Austerlitz. Unter dem Schnee, tief im Boden versickert, war noch das Blut der Tausenden. Klima fragte sich, ob heute auch Blut fließen würde. Doch sie erschöpften sich, lagen danach auf der Seite im Schnee, einander gegenüber, sahen sich an und begannen zu lachen. Sie lachten und lachten und lachten, setzten sich auf im Schnee und lachten weiter, durchnässt waren ihre Kleider, die Haare hingen ihnen strähnig ins Gesicht, sie hielten sich an den Schultern, sie umfingen sich mit den Armen, sie lachten und weinten.

Papa ist tot.

Klima hatte sich eine Zigarette angezündet und war ein wenig beiseite getreten. Schließlich ließen die Geschwister einander los, klopften sich gegenseitig den Schnee von den Leibern, sahen sich um und erkannten, wo sie waren. Sie rückten voneinander ab, wagten es kaum sich gegenseitig anzusehen, noch weniger Klima. Der drückte die Zigarette in seinem Handaschenbecher aus. „Sie sind ganz nass beide. So können Sie nicht nach Zlin kommen.“ Wie peinlich das war. Vera Veverka-Binse und Valentin Ververka prügeln sich am Tag nach dem Tod ihres Vaters wie Kleinkinder. Klima lachte: „Die Schlacht von Austerlitz, ganz ohne Kostüme.“ Vera fühlte sich ungeheuer erleichtert: „Und ohne Sieger.“ „Aber hallo“, sagte Valentin. „Das war doch wohl eindeutig.“ Vera ließ es ihm durchgehen. Klima sah auf seine Uhr. „Am besten ziehen Sie sich im Auto um. Wir sollten sehen, dass wir heute Nachmittag in Zlin sind. Ich muss einige Papiere mit Ihnen beiden durchgehen.“ Während die Männer Schmiere standen, zog Vera im Auto einen trockenen Pullover und eine frische Strumpfhose über. Den Rock, der zwar auch feucht war, behielt sie an. Dann war Valentin dran. Draußen bürstete Vera sich das Haar streng aus dem Gesicht. So sah es wenigstens einigermaßen nach einer Frisur aus.

Sie fuhren die letzten Kilometer bis Zlin schweigend. Es war ein angenehmes Schweigen, in dem sie alle drei sich geborgen fühlten. Bis Veras Mobile klingelte. Es war Jochen. Sie hörte ihm einige Minuten still zu, seinen Rechtfertigungen und Erklärungen. Sie wusste, dass sie es schon die ganze Zeit über geahnt hatte. Er würde nicht kommen. Ein wichtiger Patient, eine komplizierte Operation, nur er, der Chef konnte..., es tue ihm leid, er wisse, dass...Sie unterbrach ihn: „Weißt du, es ist mir egal. Du hast meinen Vater sowieso nicht gekannt.“ Und beendete das Gespräch. Sie hatten Zlin erreicht, Klima bog in eine Seitenstraße ein. Da stand es, das Elternhaus ihres Vaters, wie sie es von Fotographien kannte. Im Licht der Wintersonne strahlte das Habsburger Gelb der frisch gestrichenen Fassade. Vor der Eingangstür, die über eine kleine Treppe seitlich zu erreichen war, hatte sich eine lange Schlange von Menschen gebildet, die geduldig warteten, bis sie nach Innen vorrücken konnten. „Was ist denn da los?“ Klima drehte sich zu ihr um: „Das habe ich doch versucht, Ihnen zu erklären.“

2 Kommentare:

  1. Ich sage zwischendurch mal schlicht: Danke.

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  2. Ich schliesse mich dem an... Mittendrin im Geschehen kann ich vielmehr gar nicht sagen.

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