Sonntag, 25. Juli 2010

Verurteilt zu lesen: Changing Live Through Literature


Lesezirkel als Alternative zum Gefängnis


Im Guardian vom Mittwoch (21.07.2010) las ich über Mitchell Rouse, einen von der Designerdroge Crystal Meth Abhängigen aus Texas, der ursprünglich zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Seine Strafe reduzieren konnte er, indem er am Programm CLTL (Changing Live through Literature) teilnahm. Wiederholungstäter von schweren Verbrechen wie zum Beispiel bewaffneter Raub, Drogenhandel oder Körperverletzung müssen sich verpflichten einem Lesezirkel beizutreten, wo sie literarische Klassiker wie "To Kill a Mockingbird", "The Bell Jar" oder "Of Mice and Men" lesen und diskutieren. Mitchell Rouse nahm an einem Lesezirkel der Rice University in Houston teil und las Platon, Mill und Sokrates. Sein Tutor wählte Texte aus, deren Themen Schicksal, Liebe, Zorn, Freiheit, Toleranz und Mitgefühl sich auf das Leben der Teilnehmer beziehen ließen. Rouse sagte, er sei besonders von einigen Ideen John Stuart Mills beindruckt gewesen. 

Anna Barker stellt in dem Artikel den Erfolg des Progammes dar. Nur 36 von 597 Teilnehmern der Kurse hätten das Programm abgebrochen. Eine über ein Jahr angelegte Studie zeige, dass die Rückfallquoten der CLTL-Absoventen deutlich niedriger seien als die einer Vergleichsgruppe. Jedoch habe das Programm auch Kritiker, die sich darüber ärgerten, dass Schwerverbrecher kostenlose Kurse an der Universität besuchen dürften, während "normale" Studenten hierfür bezahlen müssten. Tatsächlich aber spare der Steuerzahler erhebliche Summen durch das Programm: Statt ein Leben im Gefängnis zu verbringen, wo die Unterbringung pro Jahr in Großbritannien beispielsweise $ 19.520 pro Jahr koste, schlügen die Kurse nur mit $ 500 für den gleichen Zeitraum zu Buche, während der Deliquent zu Hause lebe und nur verpflichtet sei, zu den Kursen zu erscheinen.

In Großbritannien gibt es vergleichbare Progamme an einigen Standorten, jedoch längst nicht landesweit. Ein Tutor der Universität Exeter wird im Artikel zitiert: "I think that one of the great testaments of this programme is that it demonstrates clearly that literature can make a difference to people´s lives. I already believed that, but I knew it could also be used to rehabilitate offenders."

Literatur sollte nicht geschrieben werden, um nützlich zu sein. Aber sie kann Leben ändern und - heilen*. Offenbar. 

(*Hans1962 hat in seinem Blog ein Debatte zu diesem Thema angeregt.)

21 Kommentare:

  1. Ich halte diese Art von Diskussion über nützliche Literatur für herzlich überflüssig. Wer, zum Teufel, kann denn allen Ernstes behaupten, Verzweiflung habe nicht auch ihren Nutzen?

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  2. @Markus A, Hediger
    Sie haben mich sehr neugierig gemacht.
    Wäre es möglich, mit einigen Wortstrichen einen möglichen Nutzen von Verzweiflung zu skizzieren?

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  3. Ja, Ja Herr Heidiger sehen sie, ich gäbe ihnen recht und wo sie Recht haben, haben sie recht und hier haben sie recht und dabei bleibe ich und verkünde es noch einmal, genauso sehe ich das auch

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  4. @hans1962:
    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine Hoffnung, die mich noch immer trägt, in einem Moment der tiefsten Verzweiflung entstanden ist. Verzweiflung heisst ja nichts anderes, als dahin ganz hinabzusteigen, wohin man blickt, um dann den Kopf wieder heben zu können.
    Aber mir ist auch klar, dass damit ein sehr hohes Risiko verbunden ist. Man kann sich vor lauter Runtergucken auch das Genick brechen.

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  5. @Markus A. Hediger
    Mit Verzweiflung geht ein Zustand vollkommener Hoffnungslosigkeit einher. Aus diesem Grund ist dieser Gemütszustand akut lebensgefährlich und auch nicht weiter abstufbar. Ich denke, dass Sie den Vorhof zur Verzweiflung meinen.

    Frankl ging in einem Vortrag unter anderem auch darauf ein, wie lebenssinnstiftend Literatur wirken kann. Das sagte er vor dem Hintergrund des von ihm attestierten "Sinnlosigkeitsgefühls, das mit einem Leeregefühl einhergehe, mit einem existentiellen Vakuum." Das ist der springende Punkt: "sinnlose" Literatur ist überflüssig, "verzweiflungstiftende" sogar gefährlich. Solche Literatur bezeichnete er als Symptom einer Massenneurose.

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  6. @hans1962:
    Ich teile diese Meinung nicht. Um es mit christlicher Terminologie auszudrücken: Erst wenn der Sünder sich als Sünder erkennt (und dieser Moment der Erkenntnis IST ein Moment der totalen Hoffnungslosigkeit) kann er gerettet werden.
    Ich bestreite ja nicht, dass dieser Zustand akut lebensgefährlich ist, dennoch denke ich, dass es manchmal notwendig sein kann, ihn zu erleben. Haben Sie denn nie dieses "existentielle Vakuum" erlebt?

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  7. @Markus A. Hediger
    Ich habe Verzweiflung erlebt und Glück gehabt, ja.
    Welche Meinung teilen Sie denn nicht?

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  8. Die im letzten Satz Ihres vorletzten Kommentars ausgedrückt wird.
    Vielleicht reden wir aber auch von unterschiedlichen Dingen. Führt Frankl denn auch Beispiele an?

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  9. Der Einfachheit halber stelle ich das verlinkte Zitat hier teilweise nochmals ein (verzeihen Sie, liebe Melusine):
    "...Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar. Und eine Literatur, die es verschmäht, in diesem Sinne ein Heilmittel zu sein und am Kampf gegen die Krankheit des Zeitgeistes teilzunehmen - eine solche Literatur ist nicht eine Therapie, sondern ein Symptom einer Massenneurose, der sie noch dazu in die Hände arbeitet..."

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  10. Nein, er nannte keine negativen Beispiele. (Er hielt den Vortrag anlässlich der Eröffnung einer Buchmesse...)

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  11. Ich verstehe das Zitat nicht. Es hält sich sehr allgemein, obwohl es mit sehr grossen Worten auftrumpft. Inwiefern ist die Welt heilbar? Inwiefern soll Literatur Heilmittel sein? Gegen welche Krankheit des Zeitgeistes? Welche Massenneurose?
    Ich glaube nicht, dass Literatur Heilmittel (in einem derart umfassenden Sinn, wie das Zitat zu verstehen gibt) für irgendetwas sein kann. Unterschiedliche Texte können unterschiedliche Menschen unterschiedlich berühren, verstören, heilen oder krank machen. Was dem einen ein Rettungsring ist, ist dem andern ein Anker, der ihn mit in die Tiefe zieht.
    Die Forderung nach einer gewissen Haltung oder Botschaft darf sich nicht an das Buch richten. Es ist der Leser, der aus dem Buch, durch die Lektüre und die Haltung die er zu ihr einnimmt, etwas macht. Darüber kann ein Buch nicht verfügen. Ich drücke das bewusst etwas überspitzt aus, um deutlich zu machen, dass kein Buch den Leser aus der Verantwortung entlassen kann. Egal, ob es mit einer heilsamen Absicht geschrieben wurde oder nicht.

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  12. Wie ich oben anführte: Das Sinnlosigkeitsgefühl, zu deren Symptom sich "sinnlose" Literatur verliert, ist eine von mehreren Massenneurosen, die Frankl beschrieb. Mit der Krankheit des Zeitgeists meinte er den Nihilismus.

    Dass "sinnstiftender" Literatur eine gewisse Heilkraft innewohnt, hat ja Melusine in ihrem Beitrag jedenfalls mich beeindruckend illustriert.

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  13. Ich möchte Gott sein ...


    Ich möchte Gott sein und Gebete hören
    und meine Schutz versagen können
    und Menschenherzen zunichte brennen
    und Seelenopfer begehren.
    Und möchte Erde, Welt und All vernichten
    und Trümmerhaufen über Trümmer schichten.
    Dann müßte ein Neues entstehn -
    und das ließ ich wieder vergehn.

    (Erich Mühsam)

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  14. @Markus A. Hediger
    Bitte vergeben Sie mir meinen etwas knapp geratenen Kommunikationsstil. Unser Dialog lief nebenbei, während meine Konzentration bei der Fertigstellung meines jüngsten Blogbeitrages gebunden war. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich morgen (heute) abends diesen spannenden Gedankenfaden wieder aufnehmen, ja?

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  15. @Hans1962:
    Ich diskutiere sehr gerne weiter mit Ihnen. Sollte meine Antwort etwas auf sich warten lassen, könnte es am Zeitunterschied von fünf Stunden liegen, der zwischen Brasilien und Deutschland besteht.
    Nur ganz kurz zu Ihrer letzten Einlassung: Dass Literatur sinnstiftend gebraucht werden kann, liegt auf der Hand. Umberto Eco meinte zu diesem Thema (ich glaube, es war in seinem Buch "Die Grenzen der Interpretation"), ein Buch könne man auch essen.
    Ich meine das überhaupt nicht ironisch oder zynisch.
    Einer meiner Leser schrieb mir, nachdem er den "Krötenkarneval" gelesen hatte, er habe in dem Buch Trost gefunden. Ich habe, während ich es schrieb, keinen Moment darüber nachgedacht, wie ich eine "positive Botschaft" darin verpacken könnte. Es ging mir nur darum, es zu "schreiben".

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  16. "... Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar. Und eine Literatur, die es verschmäht, in diesem Sinne ein Heilmittel zu sein und am Kampf gegen die Krankheit des Zeitgeistes teilzunehmen - eine solche Literatur ist nicht eine Therapie, sondern ein Symptom einer Massenneurose, der sie noch dazu in die Hände arbeitet. Wenn der Schriftsteller nicht fähig ist, den Leser gegen Verzweiflung zu immunisieren, dann soll er es doch wenigstens unterlassen, ihn mit Verzweiflung noch zu infizieren..."

    Ich habe selten einen gröberen Unfug lesen müssen. Es sollte keine Gesetze zur Funktion und den Funktionsweisen von Literatur geben. Das ist sektiererisches Geschwätz. Sollte Literatur z.B nicht auch ent-täuschen? Ja, das kann sie, weil sie alles sein und tun kann.

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  17. @Hans1962:
    In diesem Zusammenhang kommt mir immer wieder ein Zitat von Gregor Eisenhauer, das ich auf seiner Webseite (http://www.logbuchliteratur.de/) fand, in den Sinn:
    "Es gibt keine metaphysische Fallhöhe mehr, nur noch den Treppensturz."

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  18. @Guido Rohm
    Das ist eine mutig formulierte Sichtweise auf Frankls Arbeit.

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  19. Dieser "Zeitungsschnipsel" hat offenbar eine hitzige Diskussion ausgelöst, die ich hier in einem Internetcafé nur "überfliegen" kann. Mir ging es nicht darum, dass Literatur unter dem Aspekt der "Nützlichkeit" produziert oder rezipiert werden s o l l t e. Aber: Ich weiß von mir selbst, dass Tür in die Parallelwelt, die Literatur (und Kunst) aufstoßen kann, manchmal eine Rettung ist und dies nicht mal in einem eskapistischen Sinne. Es lässt sich plötzlich das Unmögliche denken oder hoffen - und das kann in der möglichen Welt Selbstkonzepte ändern (gar nicht mal unbedingt in einem gesellschaftlich erwünschten Sinne).

    Ich habe den "Faust" mit jungen Erwachsenen gelesen und gespielt, die nie zuvor ein Buch gelesen hatten. Noch heute (5 Jahre später) schreiben mir manche, wenn Sie etwas erlebt haben e-mails und vergleichen mit Stellen aus dem Faust oder zitieren sogar daraus. Die Lektüre hat sie nicht "geheilt", aber sie hat ihnen neue Möglichkeiten eröffnet sich selbst und die Welt zu erfahren und zu deuten. Dafür sind sie dankbar und ich bin´s, dass ich das mit ihnen erleben und selbst soviel dabei erfahren konnte: einen ganz "neuen" Faust auch für mich.

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  20. Werter Markus A. Hediger, mit einer Portion Abstand habe ich mir unseren Gedankenfaden nochmals angesehen und bin dabei ein bisschen resigniert zusammengesunken. Die Teilung meiner Konzentration gestern tat meiner Verständlichkeit nicht gut. Meine ursprüngliche Frage nach dem Nutzen von Verzweiflung ist für mich zwar hinreichend geklärt. Die Verwirrung um Frankls Aussage habe ich aber, so fürchte ich, durch meine Äußerungen eher verstärkt. Lassen Sie mich daher noch eine Zitatergänzung aus Frankls Vortrag (unter dem Titel "Das Buch als Therapeutikum" veröffentlicht) anbringen:

    "Das Gerede vom "nichts als", oder, wie diese Einstellung zum Menschen ebenfalls genannt wird, der Reduktionismus, ist nur der eine Aspekt des zeitgenössischen Nihilismus. Der andere Aspekt ist der Zynismus. Es ist schick geworden, sich über die heile Welt lustig zu machen, den Menschen herunterzumachen, ihn zu verteufeln. Selbstverständlich gehört es nicht zu den Aufgaben der Literatur, die Wirklichkeit zu beschönigen, sie zu verharmlosen. Sehr wohl mag es aber zu ihren Aufgaben gehören, jenseits der Wirklichkeit eine Möglichkeit aufleuchten zu lassen, die Möglichkeit einer Veränderung der Wirklichkeit."

    Vielleicht erhellt sich dadurch ein wenig, weshalb Frankl vom "Symptom einer Massenneurose" sprach.

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  21. @Hans1962:
    Frankls Aussagen über den Zynismus und den Reduktionismus teile ich voll und ganz. Auch in Bezug auf die Literatur, oder, sollte ich wohl besser sagen, auf die Literatur, die ich zu machen versuche.
    Ich hatte Frankl völlig falsch verstanden. Dieses zweite Zitat klärt einiges auf.

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