Dieses Jahr, hatte ich gedacht, dieses Jahr ignoriere ich den ganzen Scheiß: den Konsumterror, die Hektik, den Kitsch, die bunten Lichter und die dudelnde Weihnachtsmusik. Ich mummele mich ein, klapp den Kragen hoch und zieh die Mütze tief. Aber dann kam am Mittwochabend - wie in jedem Jahr - das Riesen-Plätzchen-Paket meiner Mutter, schön verpackt in einer großen blechernen Keksdose und mit einer bunten Schleife verziert. Am Donnerstagmorgen rief ich bei meinen Eltern an, um mich zu bedanken. Mein Vater war am Telefon: "Du weißt doch, dass wir immer für dich da sind, mein Kind." Dann sagte mein Vater noch: "Wir hatten ein wenig Aufregung. Aber es ist alles in Ordnung." Ich fragte nach und es kam heraus, dass sie beide beim Arzt waren, wegen Beschwerden, von denen sie uns, meinem Bruder und mir, nichts erzählt hatten. Ich machte ihm Vorwürfe deswegen. Er berichtete, mein Bruder habe auch schon geschimpft, gestern, als er mit dem gesprochen habe (denn mein Bruder hat natürlich auch sein Riesen-Plätzchen-Paket bekommen). "Ich habe ihm gesagt, ihr müsst euch darauf einstellen, dass wir nicht ewig leben, deine Mutter und ich. Wir sind über siebzig jetzt." Ich wollte ihn unterbrechen und zurechtweisen, so solle er nicht reden. Aber ich weiß auch, dass Papa recht hat. Ich wünsche mir nur, dass noch viele, viele Jahre jemand zu mir sagt: "Mein Kind."
Als ich die Keksdose am Freitag öffnete, aus der der Vanillekipfertkokoskronenbutterzitronenmamaduft strömte, wurde mir doch weihnachtlich zumute. Ich holte die Kisten mit dem Weihnachtsschmuck aus dem Keller, steckte Lichter auf den Kranz, klebte die vor zehn Jahren mit den Jungs gebastelten Sterne in die Fenster, band Girlanden ums Treppengeländer und schlang die Weihnachtskalenderkette darüber. Zuletzt setzte ich Wasser auf und ließ den Weihnachtstee ziehen, den ich auf dem Markt gekauft hatte. Zimt und Kardamon.
Einen schönen ersten Advent wünsche ich allen...
Mein Vater sagte immer: die Eskimos machen's richtig, da setzen sich die Alten, wenn sie nicht mehr wollen, oder können, auf eine Eisscholle. Ich bezweifle ja, dass das so stimmt, doch ich wusste, was er meint. Seitdem er vor einigen Jahren so selbstbewusst starb, wie es ihm ohne Eisscholle möglich war, ist der Tod bei uns, den Schwestern und der Mutter, mit in die Alltagsgespräche gezogen. Wir empfinden das als sehr befreiend. Wir phantasieren herum, überlegen, welche Riten uns gefallen, wir gießen die Platane, unter der mein Vater liegt, und hängen zur Adventszeit eine rote Christbaumkugel dran. Auch Trankopfer an ihre Wurzeln sind nicht ungewöhnlich.
AntwortenLöschenMeine Mutter ist Mitte siebzig und unglaublich rege. Sie hat zugesagt, mich und meine Schwester nie zu verlassen, in jedem Blatt will sie sein, in jedem Regentropfen und jedem Sonnenstrahl. Von den Vögeln im Garten ganz zu schweigen, die sie besonders liebt.
Warum ich Ihnen das schreibe? Wenn das Sterben näher heranrückt, ist's, glaub' ich, erleichternd, wenn man diese neue Dimension nicht der Kinder zuliebe ausblenden muss, weil sie den Gedanken nicht ertragen. Oder glauben, es sei ein Zeichen fehlender Liebe, den Tod mit in die Gespräche hineinzunehmen.
Ich hätte Ihnen das privat geschrieben - glaube aber, gerade dieses Thema sollte nicht immer nur in engsten Zirkeln bedacht werden.
Auch Ihnen einen schönen ersten Advent!
Liebe Melusine,
AntwortenLöschenzum Schreiben dieser Zeilen habe ich mir Ihren heimelig gedeckten Tisch auf den zweiten Monitor gelegt und stelle mir genießerisch den betörenden Duft frischen Weihnachtsgebäcks vor. Dann rupfe ich mir zwei, drei Nadeln von den Zweigen und halte sie wie ein Spitzbub erwartungsfroh an die Kerzenflamme, bis es vertraut knistert.
An der dampfenden Teeschale, die ich mir eben auch geholt habe, wärme ich meine klammen Finger, sinne Phyllis' Worten nach und krame mir die Erinnerung an die unbehagliche Spannung hervor, die Sie so fein dargestellt haben. Heute, viele Jahre nach dem Tod meines Vaters, mag ich auch vom Sterben als eine Art Ankunft denken. Eine entlastende, eine befriedigende, eine erlösende vielleicht, es ist eine Frage der Perspektive des Ankommenden.
Gläubige Christen haben da noch viel schönere Möglichkeiten.
Angenehm ist's hier bei Ihnen.
Einen schönen Abend wünsch' ich Ihnen noch.
LIebe Phyllis,
AntwortenLöschenganz herzlichen Dank für diesen schönen Kommentar. Sie haben völlig recht damit, dass der Tod und sein Näherkommen kein Tabu zwischen Menschen sein sollte, die einander lieben. Wie Sie den Umgang in Ihrer Familie damit beschreiben, das finde ich sehr schön. Auch die Vorstellung, dass ein geliebter Mensch immer bei uns bleibt, teile ich. Dennoch fällt es mir ungeheuer schwer den Gedanken an den möglich Tod der Eltern zuzulassen. Manchmal denke ich, dass ich für einen Menschen von 45 Jahren sehr wenig Erfahrung mit Abschieden habe. Eine Freundin sagte neulich zu mir, sie beneide mich darum, dass ich von "Lebenszeugen" umgeben sei, von Menschen, die mich über Jahrzehnte kennen und begleiten. Sie selbst vermisse das oft.
Vielleicht...und so komme ich zu Ihnen,
lieber Hans,
muss ich lernen, das Abschiednehmen auch als ein Ankommen zu begreifen; nicht nur den Tod, sondern auch das Loslassen der Kinder (was ich in einem anderen Beitrag schon einmal zum Thema gemacht habe). Im Grunde weiß ich ja: Alles ändert sich und unglücklich wird, wer um jeden Preis festhalten will.
Danke Ihnen beiden, für diese einfühlsamen Beiträge.
Herzliche Grüße
Melusine