Gestern habe ich eine Minute geschwiegen. Natürlich habe ich viel mehr Minuten geschwiegen, doch waren das keine Schweigeminuten. Es ist nämlich ein Unterschied: Ob ich einfach nur schweige, weil ich nichts zu sagen habe oder ob öffentlich und gemeinschaftlich geschwiegen wird, so wie gestern also, als aufgefordert wurde zu schweigen aus „Solidarität und Betroffenheit wegen der Ereignisse in Japan.“ Betroffen wurde geschwiegen. Auch ich schwieg, statt zu widersprechen. Das war feige.
Die gestern Abend betroffen Schweigenden (auch ich) sind nämlich in Wahrheit keineswegs betroffen. Es gibt Betroffene, die in Wind und Schnee ohne ausreichende Versorgung mit Nahrung, Kleidung, Obdach ausharren, die Angehörige Freunde, Nachbarn vermissen oder betrauern; es gibt Betroffene, die deren Versorgung zu organisieren versuchen, die Verwundete versorgen und Tote bergen. Es gibt Journalisten, die den wirklich Betroffenen eine Stimme geben, indem sie die Katastrophengebiete aufsuchen, mit Helfern sprechen und die Lage vor Ort aus verschiedenen Perspektiven darstellen. Es gibt ein paar Dutzend Fachleute, die sich bemühen, am Kraftwerk Fukushima I die Folgen des Unfalls einzudämmen. Es gibt Männer und Frauen, die diese Anstrengungen koordinieren, die über unkonventionelle Maßnahmen nachdenken und deren Realisierungschancen überprüfen. Es gibt Menschen, die an den Bahnhöfen in Japans Süden Spenden sammeln und Hilfstransporte gen Norden zusammenstellen. Es gibt sehr viele Betroffene.
Seit Jahren setze ich mich gegen die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie ein, weil ich die Risiken des Betriebs für unvertretbar und das Problem der Endlagerung für nicht lösbar halte. Der Unfall in Japan hat meine Haltung dazu nicht geändert. Die Bilder der Zerstörungen durch Erdbeben und Tsunami wecken Mitgefühl. Die Videos und Fotos von den geborstenen Reaktorgehäusen in Fukushima muten apokalyptisch an. Auch ich informiere mich beinahe stündlich über die Entwicklung im Kraftwerk Fukushima I.
Die Ausstellung der eigenen Betroffenheit aber durch diejenigen, die unter der Katastrophe nicht zu leiden haben, halte ich nicht für Mitgefühl mit den Opfern, sondern für den unangebrachten Wahn, sich stets selbst als Opfer (mit-) zu fühlen. Ich hätte deshalb nicht mit schweigen dürfen. Es ist keine Solidarität mit den Opfern, sich selbst als betroffen darzustellen. Es wird, auch das habe ich schon gehört, den Betroffenen von einigen unbetroffenen Gefühlsmenschen sogar unterstellt, sie zeigten sich nicht betroffen genug: „Wie können die nur so ruhig bleiben...“ Im Angesicht der Katastrophe von Japan paart sich diese Selbstbezüglichkeit der Einfühlsamen bei manch einem auch noch mit der perversen Lust, wahrhaft unbetroffen sich am größtmöglichen Unglück der anderen selbst zu bestätigen. Nur so ist zu erklären, dass im Netz und anderswo derjenigen, die in Fukushima darum kämpfen, das Schlimmste zu verhindern, schon „gedacht“ wird, als seien sie bereits gestorben. Das widert mich an. Es gilt zu hoffen. Wer kann, soll beten. Oder schweigen. Alleine. Ohne Öffentlichkeit. Keine Schweigeminuten!
(Mit schlechtem Beispiel allerdings geht den Betroffenen die Betroffenste voran: Unsere Kanzlerin weiß, dass dies nicht die Stunde formalen Rechts ist, sondern die des Affekts. Was scheren in solch betroffener Lage die Rechte des Souveräns, vertreten durch den Bundestag? Der Notstand ungünstiger Umfragewerte ist eingetreten und erfordert unmittelbares Handeln der Exekutive, mag es dabei auch nötig sein, das Recht zu brechen. Die Preis dieses Politikverständnisses wird höher sein als die zu erwartenden Schadensersatzklagen der Atomindustrie: Es ist die schleichende Erosion der Demokratie.)
Stark!
AntwortenLöschenmerci! das ist sehr gute arbeit am begriff ... und gehört eigentlich auch noch in den WORT-SCHATZ ...
AntwortenLöschenDanke für die genaue Beleuchtung des Begriffs. So wie Du es beschreibst, wird´deutlich, dass es fast schon etwas Übergriffiges hat, als nicht Betroffener dennoch das Gefühl der Betroffenheit für sich in Anspruch zu nehmen, so als wüsste man. Dein Text rückt zurecht und lässt mich weiterdenken, das gefällt mir.
AntwortenLöschenFalsche Betroffenheit war noch nie die richtige. Erkennen kann man sie daran, dass sie instrumentalisiert eingesetzt wird, um damit anderes Betroffenes zu verschleiern. Sie operieren natürlich ein wenig mit der unterschiedlichen Wortbedeutung als emotionaler Akt der Empathie von auch nicht direkt Betroffenen und andererseits der realen Vor-Ort-Betroffenheit. Selbst eine Schweigeminute hat ihren eigenen Klang, der aufrichtig sein kann oder nicht. Wobei ich dieses Wort zum Anlass nehme, auf das Buch mit dem gleichnamigen Titel des gestern 85 gewordenen Schriftstellers Siegfried Lenz hinzuweisen, der mit vielen Worten das Schweigen nie direkt beschreibt und es umso besser dadurch trifft.
AntwortenLöschenWas ist denn richtige Betroffenheit?
AntwortenLöschenDa fliegen gerade vier Atomkraftwerke in die Luft, die Leute sind mit Recht entsetzt und betroffen, ich kann daran auch nicht mal ansatzweise etwas falsches sehen, wären sie es nicht, würde wahrscheinlich im gleichen Tenor stehen, warum schweigen sie alle
AntwortenLöschenRichtige Betroffenheit ist still und wird nicht als Mittel verstanden, von Anderem abzulenken oder als Zweck eingesetzt, sich selbst zu rechtfertigen.
AntwortenLöschenSie wissen sicher nicht was ist, sie wissen vielleicht was für sie richtig ist, aber sicher wissen sie nicht, wie "man" sich bei Betroffenheit verhält. Das glaub ich im Leben nicht, das weiß nämlich keiner, keiner kann sich "richtig" verhalten, das würde nämlich bedeuten, dass es irgendwen auf der Welt gibt, der alles richtig macht.
AntwortenLöschenWir sind hilflos, so einfach das ist, deswegen sind wir Menschen, wir sind selbst Menschen wenn wir in Blogs schreiben, wir sind auch in diesen Blogs hilflos, selbst wenn wir noch so tun, als wüssten wir Bescheid, wir wissen nicht bescheid, wir können nicht bescheid wissen.
Wir können etwas erkennen, wir können sagen, sprechen, schreiben, wir können auch verstummen, aber wir werden nie wissen, wie man sich verhalten muss, in so einem Fall.
Ich halte dass was gerade passiert für die Katastrophe, für die Tragödie schlechthin und selbst das sind nur Worte, diese Worte machen nichts, sie rieseln einem nicht mal durch die Finger. Sie werden wieder vergessen werden, sie werden vielleicht auch deshalb vergessen werden, weil sie so leichtaufzuschreiben sind, na und? Dann snd sie es eben, aber ich mag sie, ich mag sie in diesem Moment, weil sie mir zwar nicht genügen, weil sie aber etwas feststellen.
Nun, könnte man auch sagen, was geht mich Japan an, mich ging ja schon Tschernobyl nichts an, ich schau einfach nicht hin, mach mein Ding und weiter.
Klar, das kann man sagen. Und?
Die Katastrophe ist trotzdem da.
Betroffenheit ist nicht zu begreifen, genauso wenig wie die Katastrophe, natürlich sind alle beeinflussbar, selbst die, die das jetzt ignorieren, oder glauben, Stille wäre das einzig wahre.
Es gibt nichts einzig wahre, es hilft kein Beten, wenn wir damit etwas bezwecken wollen, wir können nur unsere Hilflosigkeit anbeten, mit der selben Hilflosigkeit schreiben manche ihre Blogs voll, ja und, warum beurteilt man so etwas? Weil es einem nicht gefällt, weil man ernsthaft hinter dem geschriebenen einen Menschen zu erkennen glaubt, der es nicht so meint wie man selber? Muss man sich über einen Menschen stellen, um zu erfahren wer man selber gerne wäre?
Wir sind Menschen, wir machen Fehler, wir wissen nichts, wie auch?
@hab Ja, vielleicht passt´s, aber ich müsste noch einmal im Grimmschen Wörterbuch nachschlagen.
AntwortenLöschen@Dietmar Siegfried Lenz´ Geschichten und Romane habe ich immer gern gelesen. Und nach Ihrem Hinweis werde ich das wieder einmal tun.
@Hänsel aka Hans-Jürgen Hilbig Es geht keineswegs darum, die Katastrophe zu ignorieren. Aber gegen Atomkraft sollte man nicht aus Gefühligkeit sein, sondern weil es dafür gute Argumente gibt. Und um das Leid anderer kümmert man sich nicht, indem man seine eigenen Gefühle demonstriert, sondern indem man - im Rahmen seiner Möglichkeiten - hilft. Die selbstbezügliche Demonstration der eigenen "Betroffenheit" dagegen, die Aufmerksamkeit für sich fordert, statt aufmerksam denen gegenüber zu sein, die tatsächlich von der Katastrophe betroffen sind, finde ich abstoßend.
Es ist aber bezeichnend, dass Sie erneut - unter dem xten Pseudonym; - gewollt missverstehen, weil Sie ja stets andern, über deren Arbeit Sie gar nichts wissen, unterstellen, die kümmerten sich nicht um Leid, Hunger, Krankheit und Diskriminierung. Ich wüsste doch gerne mal, was Sie im Alltag tatsächlich tun, außer anderen Vorwürfe machen.
Im übrigen rate ich Ihnen, Blogs, deren Inhalte Ihnen nicht passen, einfach zu ignorieren. Stattdessen könnten Sie ja für die Opfer in Japan Spenden sammeln.