In den Osterferien 1984 fuhr ich mit der Bahn nach Rothenburg ob der Tauber. Auf die fränkischen Gastgeber in der Pension Uhl, wo ich abstieg, fürchte ich, wirkte ich in meiner Jeans-Latzhose, mit dem abgestoßenen Rucksack auf dem Rücken und dem kurz geschnittenen Kraushaar beinahe bedrohlich. Ich wollte auf keinen Fall „mädchenhaft“ erscheinen. Mein Aufzug war darauf bedacht, diesen Eindruck zu vermeiden. Ich war allein unterwegs, auf einer Art Pilgerfahrt, und fürchtete nichts mehr, als von Männern angesprochen zu werden. Eine alleinreisende Frau halten viele Männer für eine, die „zu haben“ ist. Daher setzte ich auf jener Zugfahrt und später in den Cafés und Gaststätten eine düstere Miene auf, wich jedem Blick aus und lächelte niemals zurück. Das fiel mir auch deshalb nicht schwer, weil ich die Nase tief in das Buch steckte, das mich zu dieser Reise veranlasst hatte. Es war die Biographie Hans-Christian Kirschs über Tilman Riemenschneider. Von Kirsch, der auch unter dem Pseudonym Frederik Hetmann schrieb, hatten viele Sach- und Jugendbücher in den zusammen gewürfelten Bestand der evangelischen Gemeindebücherei gefunden, in der ich zur Leserin geworden war; vor allem über Amerika, das Land meiner Träume, über Western und Indianerlegenden, über Flower Power und Revolte, über die Route 66 und die gelben Weizenfelder des mittleren Westens. (Damals hätte ich nie gedacht, dass ich einmal die Weite Amerikas, nach der ich mich sehnte, mit eigenen Augen sehen würde.)
Stattdessen also hatte es mich nach Rothenburg verschlagen, in die engen mittelalterlichen Gassen, die dicht gedrängten Häuser inmitten der wuchtigen Mauern. Ich kam, um zu schauen, ob Tilman Riemenschneiders Holzfiguren mich den Glauben an die Erlösung wiederfinden ließen, den ich verloren hatte. Um es vorweg zu nehmen: Ich fand ihn nicht. Mein naiver Kinderglaube, durch den ich mich trotz aller Zweifel und allen Aufbegehrens geborgen gefühlt hatte in der umfassenden Vergebung des Auferstandenen, er war für immer verloren. Ich ahnte es schon. Doch ich fand in Riemenschneiders Altaraufsätzen etwas Anderes: Mein Thema, das mich in den nächsten Jahrzehnten im Studium und weit über es hinaus beschäftigen würde. Ich hatte damals schon verstanden, dass große Kunst jenseits sozialer Praxis und Parteinahme entsteht. Doch das autonome Kunstwerk und sein Schöpfer, der geniale Künstler, verursachten mir immer noch Bauchgrimmen. Was war von Werken zu halten, die ihre „Schwerverständlichkeit“ als Qualitätsnachweis vor sich hertrugen, was von Künstlern, die ihre eigene Isolation als Abgrenzungsmerkmal benutzen? Ich begriff, dass die Kunst, die zu verstehen ich mich so sehr sehnte, sich auch gegen mich richtete: Indem sie ausgab universell zu sein und zugleich eine Herkunft wie meine leugnete. Dann kam Peter Weiss´ “Ästhetik des Widerstands“: „Ich erinnerte mich, wie mich beim Lesen, beim Betrachten von Bildern zuweilen die Empfindung der Ausweglosigkeit überkam, das ganze Misstrauen gegen eine Welt, die Mühsal und Ekel durch Formen und Farben bezwang.“ Aber ich wusste auch: Weiss eignete sich die Biographie des Ich-Erzählers aus der Arbeiterschicht nur an. Die Stimmen von einer, von einem, die wirklich von dort herkamen, müssten noch anders klingen. Ein weiter Umweg, fühlte ich, war zu nehmen: verstehen, ohne anzuklagen, mitdenken, ohne zu verwerfen, sich einfühlen, ohne Rückhalt – und zugleich sich stets erinnern: woher ich komme, wem ich vertraue, wo ich gebunden bleiben will.
Das hieß, ich hätte das damals nicht formulieren können – und kann es auch heute nur versuchsweise – der Autonomie der Kunst nicht zu vertrauen, sich zurück zu besinnen auf Werke, die noch im Auftrag produziert worden waren oder sich selbst Aufträge gaben, die auf soziale Praxis bezogen blieben. Immer wieder die Suche nach dem „imaginären Gespräch mit den Toten“, die Spurensuche nach ihren Abhängigkeiten und Anerkennungssehnsüchten, der Versuch ihre Verbindungen und Verbindlichkeiten freizulegen statt ihre autonomen Setzungen zu feiern. Kunst, die (auch) noch Handwerk war, Literatur, die auf Dialog mit dem Publikum zielte, Musik, die zum Mitsingen und Tanzen einlud. Ein Wissen darum erwerben, was der Preis gewesen war für die kontemplative Schau, das Museum, die Anordnung der Stühle in den Konzertsälen, das Guckkastentheater der Voyeure. Die Geschäftsmodelle künstlerischer Produktion im Lauf der Zeiten zu verfolgen, machte ich ebenso zu meinem Anliegen, wie die Überprüfung der Wirksamkeit von Kunst in sozialen Zusammenhängen. Doch gleichzeitig wollte ich eine Zugangsweise finden, die sich nicht in platter Sozialgeschichte der Kunst erschöpfte, sondern auch für das je Eigene der Werke offen blieb.
Nichts von alle dem hätte ich damals in Rothenburg, Creglingen oder Detwang aussprechen können. Doch ich stand vor dem Heilig-Blut-Altar und wünschte die Hand auszustrecken nach Johannes, der an der Brust des Zimmermanns ruhte; die Schreiner-Enkelin bewunderte das Spiel der Sonnenstrahlen mit dem Holz, die filigrane Arbeit, die die Adern an den Füßen der Figuren so wirklichkeitsgetreu abbildete; ich schwebte mit der Maria in der Herrgottskirche und bewunderte die Jugend der himmelfahrenden ewigen Mutter; in Detwang überfiel mich die Traurigkeit, die das Ostereignis noch nicht kennt: Alles vergebens, dennoch versöhnt. Die Riemenschneider dargestellt hatte, waren nicht orientalische Gestalten, die vor mehr als anderthalb Jahrtausenden in den Mauern von Jerusalem ihr Schicksal fanden, sondern fränkische Bauern und Mädgde, ihren Gesichtern und Leibern hatte sich Freude und Leid, Lebenslust und Schmerz aufgeprägt. Er zeigte, wer sie waren oder hätten sein können, seine Arbeiten waren soziale Plastik mit revolutionärer Botschaft: Ecce homo.
Was ist der Mensch, der nicht HERR ist?
(Dass diese Frage auch eine geschlechtliche Implikation hatte, begriff ich erst anderthalb Jahrzehnte später.)
Ein Kommentar von Jean Stubenzweig (siehe Blog-Roll), den er mir per mail sandte: Bei nächster Gelegenheit möchte ich ich mich zu diesem Thema dezidierter äußern. Aber den Riemenschneider möchte ich vorabschicken. Hellmut G. Haasis hat zu ihm, wie der Autor sie selbst genannt hat, eine Kurzerzählung verfaßt, die ich zunächst eingebracht haben möchte.
AntwortenLöschenAnmerkung: Jean Stubenzweig möchte keine Cookies hinterlassen. Das ist offenbar auf dieser Seite nicht möglich. Ich muss zugeben, dass ich in diesen Fragen unbeschlagen und vielleicht auch zu nachlässig bin. Ich werde versuchen, mich kundiger zu machen. Allerdings wird das erst in einigen Wochen möglich sein, wenn ich beruflich ein wenig Luft habe. Vielleicht kann ich dann für Abhilfe sorgen.
thanks, heute habe ich mir fuer deinen text mal etwas mehr zeit genommen, bin auch diesem link gefolgt. das werk Riemenschneiders ist quasi vor dem geistigen auge auferstanden. Prof. Klaus Hammer hat in den 80ern zu uns gesagt, es waere unsere aufgabe, aus dem kleinen kreis der kenner einen grossen zu machen. ich denke, auch eine kurzgeschichte, wie diese kann dazu beitragen, ersetzt aber nicht die muehe, die sich der einzelne machen muss, um (alte) werke mit symbolcharackter (heute noch) zu verstehen. das symbolverstaendnis laesst im laufe der geschichte nach, wir stecken nicht im leben von damals. aber am bsp. Riemenschneiders kann man die anknuepfung an ganz allgemeinmenschliche gefuehle abseits vom verstandnis christlicher symbolik beobachten bzw. nachempfinden.
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