Wussten Sie, dass „die REGIERENDE WIRKUNG des Amtes zu ihrer höchsten Entfaltung kommt, wenn die Kanzlerin und ihr Amtschef verreist sind“? Sie erfahren es an der „Dampferanlegestation Bundeskanzleramt“, wenn sie mit Alexander Kluge die Spree entlang und weiter schippern, durch die politischen Gewässer und Untiefen, die Gezeiten und Wellenschläge der Politik: „Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten“.
Das zunächst so einleuchtende Titel-Wortbild, von Max Weber geprägt, unterzieht die vierte Geschichte in diesem Band einer kritischen Prüfung. Es werde, lässt Kluge die erfahrene Politikerin Gertrud Reinicke erzählen, nichts Hartes aufgebohrt, in Wahrheit bestehe das politische Geschäft im Wesentlichen aus Passivität, dem „Geschehenlassen“. Man suche, statt mit stabilem Gerät die harte Fläche anzubohren, nach „weichen Stellen“, schließlich gehe es um die Bildung von Netzwerken. Alles drehe sich um Kommunikation: Datendurchfluss CC. Es lässt sich daraus ableiten: Die politische Arbeit orientiert sich weniger an den Abläufen in einer Schreinerei als an der Organisation einer Mafia.
Metaphern aus Ökonomie-Klassikern und politische Phrasen nimmt Kluge zum Anlass, wunderbare Geschichten zu entdecken: „Die ´unsichtbare Hand´“ sieht der Explorationsgeologe Dr.-Ing. Malte Wiegand ganz anders wirken als Adam Smith. Wiegand untersucht im Auftrag von BP die Ursachen des Bohrunglücks im Golf von Mexiko 2010. Er habe, berichtet der Gutachter, eine solche Häufung von Zufällen, wie sie das Unglück herbeigeführt hätten, bisher nur aus „historischen Erzählungen über vergangene Schuld oder einen Fluch“ gekannt, jedoch nicht „aus der technischen Realität der Bohrpraxis“. Gutachter Wiegand sieht eine „unsichtbare Hand“ wirken und liest die Ereignisse vor der Küste als eine Schrift, gezeugt aus „KRAFTEMERGENZEN...., welche der Relation von Schuld und Sühne gehorchen.“ Das Gutachten, erklärt Kluge, der Leserin „wurde von BP als mangelhaft bezeichnet und nicht bezahlt.“
Der Band versammelt 133 Kurz- und Kürzest-Erzählungen, in denen Alexander Kluge mit einer Geste des Staunens Welterfahrungen versammelt, wie stets auf der Suche nach Orientierung, dieses Mal im Politischen, das er im Vorwort als einen „besonderen Intensitätsgrad alltäglicher Gefühle“ beschreibt, dessen Maß „Vertrauen“ heiße. Das Politische bewegt in der Weise, in der es Vertrauen erzeugt oder verliert, die Geschichte. Der Fiktion von der Realität stellt Kluge mit seiner dokumentarisierenden Detailversessenheit die Fiktionalität der Fakten entgegen.
So findet die Leserin in diesem schmalen Band eine Fülle erstaunlicher Fakten, die Geschichten machen: Stefan Aust, der trotz eines vom Streik gegen die Erhöhung des Rentenalters verhinderten Heimflugs Sympathien für das „bizarre Frankreich“ hegt, das ihm als Mitbringsel das unübersetzbare Wort „ralle-balle“ ins Gepäck gelegt hat. Oder wie im Sommer 1790 der Hauslehrer Etienne Deux einen Unterrichtsbetrieb gründet, in dem Revolutionäre die Anfangsgründe des Republikanismus lernen sollen. Diese Schulen, kaum etabliert, wandern in der Napoleonischen Zeit in den Untergrund ab, da „Minister Fouché dem Lernen in Form unabhängiger Assoziationen misstraute“. Die „Produkte freier republikanischer Schulen (sind) erst fertig, wenn die Zeitgeschichte sie nicht mehr will oder braucht.“, folgert der Erzähler. Die Zeit, ihre Inkongruenz zu den Absichten und Gefühlen der Akteure, ist ein Leitmotiv der Erzählungen. Und so kommt es auch zur „allmählichen Entleerung der revolutionären Gedanken beim Reden".
Lesen Sie nach, wie General Kléber, dem Napoleon die Armee in Ägypten überließ, starb. Und wie sein Nachfolger, ein zum Islam konvertierter General, die „Armée Orient“ beinahe gen Konstantinopel geführt hätte. Wie hängt der Verlauf der Geschichte gelegentlich vom militärischen Talent Einzelner ab? „Man wäre dann im Frühjahr 1802 vor Wien angelangt.“ Wenn General Menou ein weniger glänzender Verwalter und Ökonom, aber ein militärisches Talent gewesen wäre?
Oder: Wie Hitler aus Bonapartes Fehlern lernen will, wie General Pétains Leben durch literarische Erfahrung gerettet wird, wie Max Weber die russische Revolution von 1905 in der Lesehalle der Universität Heidelberg erfassen will, warum Nikita Chrutschows Grundschullehrerin aus dem Verkehr gezogen wurde, wieso der Ökonom der Zyklustheorie Kondratieff erschossen wurde, über „die Balance im politisch-emotionalen Haushalt der Deutschen Demokratischen Republik“ und „besonders erfolgreiche Polizeihunde=Erziehung“.
Lesen Sie. Schauen Sie. Das Buch illustrieren zahlreiche Fotos, die eben so staunen lassen wie die Erzählungen. Sie sehen den an den Füßen aufgehängten Mussolini, neben ihm seine Geliebte, gleich ihm zur Schau gestellt. Doch wollte man den Körper der unpolitischen Frau „über die Darstellung als Gefährtin des INFAMEN hinaus, nicht zusätzlicher Schande aussetzen.“ Daher band man der Leiche die Kleider mit Stricken um den Leib, so dass Scham und Brüste unentblößt blieben.
Und: Stellen Sie (sich) Fragen: Gibt es den Gesamtarbeiter? Wie kann das RIESENBABY der Revolution am Leben gehalten werden in den ersten Jahrhunderten? Warum sind alle in Eile und die Zeit doch immer zu kurz? Wie starb Alexander der Große und warum wollen wir das wissen? Wer soll uns retten und wie?
Die 133. und letzte der politischen Geschichten schenke ich Ihnen hier:
Bodenhaftung durch Bauch
Der empfindliche Nacken des dreimonatigen Kindes war durch eine Nackenstütze geschützt. Unter der Körperregion, die später einmal das Gesäß sein würde, lag die Hand der Mutter. Noch gilt Bodenhaftung durch Bauch. Boden waren Brust und Schulter der jungen Frau, die glücklich zu sein schien. Die Hand des Kindes lag „besitzergreifend“ auf der Schulter der jungen Mutter. Durch ihr Verhalten verschaffen sich Kleinkinder den Frieden ihrer Umwelt. Allein wegen des Erfindungsreichtums an Kontakten.
Den Rest müssen Sie sich selbst besorgen:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen