Sonntag, 3. Juli 2011

A DANCE TO THE MUSIC OF TIME lesen (2)


Ein Beitrag von MOREL

"Wäre ich als Abiturient 1965 meinen damaligen Neigungen gefolgt, wäre ich Fotograf geworden oder hätte Geschichte und Germanistik studiert. Ich wollte aber weder Lehrer werden noch als Hungerleider in einer Provinzredaktion enden, und darum wählte ich einen „Brotberuf“. Wer mit wachen Augen in die Welt schaut, weiß auch schon als Abiturient, dass das Geld dort verdient wird, wo kaufkräftige Nachfrage auf ein knappes Angebot stößt. (Dr. Thilo S., Leserbrief an die F.A.S., 3. Juli 2011).

Wenn die Anthony Powell Society für ihren jährlich verliehenen Widmerpool-Award auch deutsche Nominierungen akzeptieren würde, sollte der beliebte Berliner Kochbuchautor und Freizeitprophet gute Chancen auf einen klangvollen Preis haben. Schließlich sind Humorlosigkeit, Unterwürfigkeit nach oben und Häme gegenüber Schwachen einige der Voraussetzungen für die Preiswürdigkeit. Aber wer ist eigentlich Widmerpool? In „A Question of Upbringing“ (lesend bin ich noch nicht über den ersten Monat des Frühlings in diesem zwölfbändigen Romanzyklus hinausgekommen, aber April, der grausamste Monat, wartet schon auf dem Nachttisch) begegnet er dem Erzähler zuerst an einem trüben, nebligen Dezember-Samstag mit den ersten Anzeichen des Winters in der Luft. Widmerpool wird hier als der perfekte Außenseiter eingeführt. Indem er nämlich das, was im Internat alle Jungen unter Zwang kurz nach dem Aufstehen hinter sich bringen, den verfluchten Dauerlauf, am Nachmittag und freiwillig absolviert. Ein Jogger avant la lettre. An diesem Auftritt kann gut studiert, werden, wie Powell Figuren in sein Romanwerk einführt. Sie haben ihren plötzlichen Auftritt als Bild, das vom Erzähler betrachtet wird. Sich an diese vermeintlich erste Begegnung mit Widmerpool erinnernd, gibt er zu, dass er ihm wohl schon zuvor begegnet sei, auch dass er einiges gehört habe. Etwa die Geschichte über den absurd unpassenden Mantel, auch wenn er diesen selbst noch nie zu Gesicht bekommen habe. Ein Mantel jedenfalls, den man nicht trägt. Snobismus ist eben das Gift, das diese englische Internatsatmosphäre durchsetzt wie der Hausschwamm die brüchigen Mauern (Powell Freund George Orwell schreibt darüber in Such, such were the joys). Dunkler ist die Geschichte von Widmerpools Denunziation eines Mitschülers als homosexuell, der dann vom Internat fliegt. Die Lehrer halten mehr vom strebsamen, wenn auch nicht brillanten Widmerpool als seine Mitschüler, die ihn aber keinesfalls verfolgen, sondern meistens übersehen. Nur an diesem Morgen wird er für Jenkins, dem Erzähler, zum Bild, im Grunde eine Allegorie des Ehrgeizes, der Ambition. Während die Oberschicht, aus der Jenkins stammt, mit müden, und nicht wie Dr. S. in seiner Jugend, mit wachen Augen in die Welt schaut, verfolgt der zunächst verlachte Widmerpool, an einem trüben Winternachmittag seine Spur über die englischen Felder ziehend, eine Laufbahn, die ihn voranbringen soll.

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Mit diesem Bild ist er eine allegorische Figur, aber noch kein Charakter. Das aber teilt er mit vielen der Protagonisten in A Dance to the Music of Time: sie haben kurze, prägnante Auftritte, aber wenig Tiefe. Dieser Roman spielt nicht in den Abgründen der Seele, sondern an der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens: in Salons, Empfangsräumen und Pensionen. Das nächste Mal begegnet Widmerpool uns in einer französischen Pension, in die auch Jenkins vor dem Antritt seines Studiums einquartiert wurde. Hier aber ergreift der im Internat, eher durchschnittliche und unscheinbare Mitschüler, die Initiative. Zwei der Pensionsgäste geraten auf dem etwas heruntergekommenen Tennisplatz in Streit miteinander. Trotz der Unannehmlichkeiten, die dieser Streit für alle Gäste der Pension hat, wird er beschwiegen, da er die Tiefe verletzter Eitelkeiten und unausgesprochener Begierden zu berühren scheint, die für die Figuren dieses Romans unzugänglich ist. Widmerpool ergreift die Initiative und vermittelt, zum Erstaunen des Erzählers, alle Formalitäten beachtend, mit kühlem Verstand und ohne sich tiefer auf die wahren Motive der Streithähne einzulassen die Versöhnung zwischen beiden. Dabei weist er Jenkins scharf zurecht als jemand, der sich viel zu sehr darin gefällt, andere zu kritisieren. Dieser Wille zur Einflussnahme und damit zur Macht geht Jenkins ab – er wird zunächst seinen Neigungen folgen. Aber Widmerpool ist auch ohne seelische Tiefe nicht die einseitige Karikatur, als die er uns zuerst begegnete.

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