„Die Welt ist voller Muschilecker. Mehr Wahrheit gibt es nicht.“ So sieht es aus. Nämlich. Die sind wie sie sind, die Hausfrauen, Angestellten, Nachbarn, Talkshow-Gäste, Mistkerle, Arschlöcher und Langweiler, von denen Guido Rohm im Geschichtenband „Keine Spuren“ erzählt. Die Leserin lernt die Querulanten, Psychopathen, Depressiven und sonst wie Gestörten kennen, grad wie sie sich die vorstellt: Idioten eben, die nichts auf die Reihe kriegen, angefüllt mit Hass und Ödnis, Dummheit und Stumpfsinn. So sind die halt: Bilden sich ein, die Frau geht fremd und schlagen zu, treten aus Langeweile einen Obdachlosen zu Brei, verheulen ihren einzigen Fernsehauftritt im Leben, legen sich in einer Kiste selbst zur ewigen Ruhe. Opfer eben, die keiner bemitleiden mag in ihrer erbarmungslos dargestellten Erbärmlichkeit.
Rohm lässt kein Klischee aus, wenn er seine gescheiterten „Helden“ vorführt. Sie verhalten sich so plump und denken so töricht vor sich hin, wie der übliche Privatfernsehkonsument sich die Welt und ihre Bewohner zusammen reimt. So wie es im Buche steht, in Rohms nämlich, ist es halt aber alles doch noch ganz anders. Rohm enttäuscht die voyeuristische Bestätigung, dass die andern noch ein bisschen doofer sind als man selbst, die den Doku-Soaps ihre Einschaltquoten beschert, indem er so tief hineintaucht in die böse Banalität, dass sie wieder erkennbar wird als die eigene Feigheit, Trägheit und Mutlosigkeit.
In „Der erfolgreichste Autor aller Zeiten“ schildert Rohm die grandiose Karriere des Schriftstellers Severus, mit bürgerlichem Namen Winston Smith, der sein Publikum mit Trilogien fesselt. Severus ist gleichzeitig Träger des Friedens- wie des Literaturnobelpreises; „der erste globale Star der Literaturszene, der nicht nur Frieden und Einigkeit gebracht hatte, sondern dazu noch ein Brausegetränk namens ESPRIT.“ Die Verwertungsmaschinerie läuft wie geschmiert, Film, Fernsehen, Merchandising, Villa am Comer See, fünf Scheidungen, acht Kinder und sogar ein Gedichtband. Das ist schnell und witzig erzählt. Dann aber wagt Rohm mit dem Leser „einen Sprung in die unmittelbare Gegenwart“. Dort sitzt der erfolgreichste Autor aller Zeiten und „ächzt wie ein Möbelstück“. Winston Smith, der Talkshowgast, ist nur ein Double. Der übergewichtige Schreiberling, auf dessen Konto die 46 Romane gehen, lebt in völliger Einsamkeit: „Gottes ärmstes Geschöpf“ Gregor Faust. Selbst der Hass kann ihn nicht zur Tat beflügeln. Er schläft viel und träumt: davon sein Double, Winston Smith, zu töten. Stoff für eine neue Trilogie.
Was in „Keine Spuren“ erzählt wird, scheint so nahe dran an unserer Medienwirklichkeit, dass sich der fatale Irrtum ergeben könnte, Guido Rohm sei ein „realistischer“ Autor. Der lakonische Stil, der klassichen amerikanischen short story abgelauscht, könnte diesen Eindruck noch vertiefen. Tatsache ist aber, dass Rohms Figuren in einem Niemandsland agieren, jenseits von Raum und Zeit, in einer Parallelwelt, die unserer nur verblüffend und entlarvend ähnelt. In keiner Geschichte wird ein Ort oder eine Zeit genannt. Alles erscheint nur bekannt: Kreuzfahrtschiffe, Urlaubshotels, Fernsehstudios, freudlose Wohnzimmer und düstere Straßenkreuzungen. In der letzten Geschichte des Bandes taucht der amerikanische Krimiautor Tom Torn auf (der in Rohms Roman „Blut ist ein Fluss“ eine tragende Rolle spielt) und ins Internet, wo er feststellen muss, dass er nur ein Avatar ist, den sich Autor Rohm ausgedacht und in die amerikanische Metropole verfrachtet hat. Torn verzweifelt beinahe bei dem Versuch, sich die eigene Existenz zu beweisen. Eine Nacht lang ist sein Telefon tot und eine Außenwelt jenseits der Wohnungstür unerreichtbar. Am Morgen aber dringen die Sonnenstrahlen „wie tausend Nadeln ins Zimmer“. Torn erwacht wie aus einem bösen Traum, der abseitigen Wirklichkeit des osthessischen Autors Rohm, und geht raus – aus der Geschichte – nach draußen, von wo der „Geruch von Müll und Urin“ hereinströmt.
In Wahrheit ist die Welt „voller Muschilecker“, hier wie dort. Mehr Wahrheit gibt es nicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen