Auf der Suche nach ganz was anderem bin ich im Durcheinander unter meiner Schreibtischauflage auf dieses Foto gestoßen. 1985 steht auf der Rückseite. Ob das stimmt? Gelegentlich habe ich in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem vor Umzügen, den Impuls verspürt, endlich Ordnung zu schaffen und aus den Fotos in den vielen Schuhkartons Alben anzulegen. Einige Stunden verbrachte ich dann jeweils damit, zwischen Fotos, Zeitungsausschnitten, Theaterkarten und entwerteten Fahrscheinen hockend, alles zunächst nach Jahrgängen zu sortieren. Manches war eindeutig zuzuordnen: Die Abifeier (1984), die Hochzeitsreise (Niagarafälle, 1992), Amazings und Master Minds erste Lebensjahre (1994 und 1995), bei den meisten musste ich rekonstruieren und manchmal auch raten. Das Ergebnis meiner Raterei habe ich bisweilen auf der Rückseite notiert. Das hier könnte 1985 gewesen sein, in meinem ersten Studienjahr oder auch 1986. Ganz sicher weiß ich das nicht. BenHuRum könnte es wissen. Doch glaube ich das eher nicht. Er gehört so wenig wie ich zu den Leuten, die genau sagen können: was wann war. Ich erinnere mich immer nur an Momente. Die Geschichten dazu erfinde ich nachher. Meine Mutter nennt das Lügen. Für mich dagegen gibt es gar keine andere Wahrheit, denn wie es „wirklich“ gewesen ist, weiß ich ja nicht und - anders als den Juristen – interessiert es mich auch nicht.
Neulich in einem Krimi sollten verschiedene Verdächtige dazu Auskunft geben, was sie an einem bestimmten Tag vor mehreren Wochen getan hätten. Von so einer Aufforderung wäre ich komplett überfordert, es sei denn ich hätte zu der Zeit gerade unterrichtet, eine Yogastunde oder eine Sitzung gehabt. Dann stünde es ja in meinem Kalender und genügend Zeugen bereit. Andernfalls sähe es sehr schlecht für mich aus. Denn ich würde mich in einen Haufen Widersprüche verwickeln, sofort. Nicht weil ich mich nicht erinnern könnte, sondern weil ich ohne Weiteres sogleich eine passende Erinnerung produzierte, die leider aber keiner Überprüfung standhielte, obgleich sie mir selbst so wahr erschiene, wie die Tatsache, dass ich diesen Montag um 8.30 Uhr auf einem Zahnarztstuhl lag und mir vorsagte: „Einatmen, doppelt so lang ausatmen.“
Ich habe keine „echten“ Erinnerungen an diesen Raum auf dem Bild oder an das, worüber BenHuRum und ich damals sprachen. Ich weiß nicht, was wir zu der Zeit lasen oder ob wir danach auf einer Party waren. Ich weiß nicht einmal, wer dieses Foto gemacht hat. Aber ich hatte das alles schon erzählt und es klang sehr überzeugend. Doch dann habe ich mich entschieden, heute lieber davon zu berichten, wie ich mir die Welt zurecht erzähle. (Zumal BenHuRum das vielleicht liest und sich bestimmt gar nicht an die Geschichte erinnern könnte, die ich wie einen Film vor mir sehe.)
Es ist nie dazu gekommen, dass ich Fotoalben angelegt habe (nur zwei Ausnahmen gibt es: eines für Amazing, eines für Mastermind). Verzweifelt über die schier unübersichtliche Menge der Erinnerungsstücke warf ich nach einem Nachmittag der Entdeckungen und Geschichten gewöhnlich die Fotos und Souvenirs wieder in die Kästen, manche dann mit einer zweifelhaften Zeitangabe auf der Rückseite. Ich weiß nicht, wie dieses Foto unter meine Schreibtischmatte geraten ist. Aber ich könnte erzählen.
Den Juristen, liebe Melusine, habe ich mir erzählen lassen, interessiert die Wahrheit auch nicht. Höchstens den Richter. Kommentar dazu von Louis Brandeis: „A judge rarely performs his functions adequately, unless the case before him is adequately presented.”
AntwortenLöschenBeste Grüße
NO
Ich war versucht, mit einem Juristen-Witz zu erwidern. Es gibt ja genug. Es ist aber so: Ich glaube nicht an eine absolute Wahrheit (oder daran, dass wir sie je "haben" werden) - gerade deshalb setze ich auf die Juristen und das Recht (ohne Natur-). (Nur stilistisch ansprechender sollten sie schreiben, die Juristen, das schon, das kann frau verlangen!)
AntwortenLöschenHerzliche Grüße
Melusine
Ja, Juristenwitze (wie der, wonach es ein guter Anfang ist, wenn man beim Tauchen 3 angebunden auf dem Meeresboden findet) sollen helfen. Diese Rechtsverdreher! Wie wäre die Welt besser dran ohne sie. Obwohl – es steht ja bekanntlich ein Türwächter vor dem Gesetz. Also, insofern haben Sie vielleicht richtig gesetzt, liebe Melusine, man braucht wohlmöglich einen Interessenvertreter, um da vorbeizukommen. Denn in der Tat: Es geht nie um absolute Wahrheit, immer nur um das Aushandeln von Interessen beider Parteien (und ich habe gehört, dass können die; „He is no lawyer, who cannot take two sides“).
AntwortenLöschenHoffentlich ist es oben tatsächlich der „Türwächter“ (und nicht der „Wärter“) und tatsächlich das „Gesetz“ (und nicht das Recht“), sonst verklagt mich wieder dieser Herr Basarin, der Stellvertreter Kafkas auf Erden, weil ich nach „Amerika“ auch noch den „Prozess“ falsch zitiere. Also verraten Sie mich nicht, dann werde ich auch nicht eines Morgens verhaftet.
Na ja, noch geht es mir ja gut, kann mich nicht beschweren. Was mich aber nun doch an den Anfang oben erinnert: Fragt einer den Anwalt: „Wie geht’s?“ Sagt der: „Kann nicht klagen“. Nun sehen Sie, was Sie mit Ihrer Antwort bei mir gemacht haben: Setting free my inner Flußpferd.
Dolle Formulierung übrigens. Die ist doch irgendwie gar nicht so ungenial, die Miss Peel.
Beste Grüße
John Steed
Dear John,
AntwortenLöschenin Prozessen darf nie falsch zitiert werden, versteht sich. Aus dem "Prozess" indes - kommt es vor, nicht wahr? Da uns allen dort der Prozess gemacht wird, können wir ja schwerlich als und wie Anwälte agieren - und den Angeklagten mag man manches nachsehen. Ich jedenfalls.
Mit Pferden jedoch hab´ ich es nicht, selbst die mit dem schönen Hinterteil, die im Fluss beheimatet sind, können mein Herz nicht freisetzen. Ich halt´ es mehr mit den Echsen und Schlangentieren: Setting free my inner EEL.
Was mich zum Ale bringt - und damit auch irgendwie zu John Steed - (eben wendig wie ein Aal). Diese Beweglichkeit allerdings fehlt mir, wo´s um das Recht geht, ganz und gar. Drum taugte ich auch nicht zur Anwältin. Meiner Familie mütterlicherseits wird hier eine fast kohlhaas´sche Halsstarrigkeit nachgesagt, die sich freilich allein auf mich vererbt hat, wohingegen mein Bruder das Recht zwar nicht beugt (keineswegs!), doch stets gebührend und pragmatisch ...anpasst. Er ist Jurist. "Meine Schwester", sagt er "ist ein bisschen unflexibel." Wo er Recht hat, hat er recht.
Herzliche Grüße
M.B.