Gestern Abend habe ich kurz den Fernseher angeschaltet, als ich heimkam. Ich schaue nicht sehr häufig die aktuellen Programme. Eher schiebe ich mir eine DVD rein. (Derzeit meine Lieblingsserie: Mad Men. Das ist nicht originell, ich weiß. Diese epische Erzählung über die Jahre, in die hinein ich geboren wurde, bevor Hippies, Love&Peace und Minirock sogar in die hessische Provinz einzogen, rasch gefolgt von BaaderMeinhof-Bande und Berufsverbot, heimst seit Jahren die Emmis ein.) Weil ich nicht so fernsehaffin bin, war ich überrascht, dass Anne Will jetzt am Mittwochabend mit Gästen rumsitzt. Aber dann war es ganz lustig und auch interessant zu sehen, wie das politische Establishment mit dem Piraten-Angriff umgeht. Man gibt sich angestrengt locker. Das geht natürlich schief. Ein Herr Lindner von der Berliner FDP hatte seinen wahrscheinlich letzten Auftritt vor größerem Publikum. Kein Verlust, sage ich, er gab ein Abziehbild des seriösen Worthülsendreschers, wie man ihn aus allen Talkshows kennt, warf aber immerhin kurz ein, früher sei er auch mal für die Legalisierung von Haschisch gewesen. Das ist der Habitus, den sie sich alle zugelegt haben: Wir waren auch mal jung, das gibt sich schon.
Christopher Lauer von den Piraten hat einen Lacher nach dem anderen auf seiner Seite. Es wird klar: In so einer Runde wirkt es schon unwahrscheinlich authentisch, ehrlich und frisch, wenn jemand nur einmal zugibt, dass er von einem Thema keine Ahnung hat, wenn jemand Fragen auch mal schlicht mit „Nö!“ beantwortet oder selber nachfragt. Er weiß das natürlich und spielt es geschickt aus. Gut gemacht, Herr Lauer. Schade ist aber, dass auch ernstgemeinte Vorschläge, wie derjenige, den Berliner öffentlichen Nahverkehr durch eine allgemeine Abgabe zu finanzieren statt durch Tickets, von den Mitdiskutanten schlicht als Gag abgetan wird. Etwas mal ganz anders denken, statt am Hergebrachten nur ein wenig herumzudoktern, das haben sich diese Damen und Herren längst abgewöhnt.
Genau deshalb gewinnen die Piraten Stimmen. (Persönlich habe ich große Probleme mit ihrem Verständnis von Geschlechterpolitik, das sich nicht nur in der geringen Beteiligung von Frauen in der Partei zeigt, sondern auch in Kooperationen mit Männerbünden, die mindestens fragwürdig sind. Als Differenzfeministin finde ich die Position der Piraten, Geschlecht als Kategorie komplett zu ignorieren, schlicht falsch.) Dennoch: Was Wähler:innen fasziniert, ist der Ansatz, Probleme zu definieren und in einem offenen Diskussionsprozess Lösungen zu formulieren, statt ideologische Konzepte zu entwickeln und aus diesen heraus politische Programme zu schreiben. Das eben unterscheidet die politische Sozialisation vieler der Digital Natives von derjenigen, die wir Ältere durchlaufen haben: Sie suchen nicht nach einem geschlossenen Weltbild, sondern akzeptieren Unübersichtlichkeit, Wandel und Risiko als Voraussetzung dessen, was sie als zentrale Wertorientierung begreifen: individuelle Freiheit. Es ist falsch und dumm, denke ich, ihnen vorzuwerfen, sie missverständen Freiheit als Klamauk. Denn gerade diese Generation hat persönlich erfahren, dass Freiheit vor allem auch bedeutet, auf Sicherheiten zu verzichten. Was viele Ältere nicht akzeptieren mögen, ist, dass einige von ihnen, eben jene, die sich durch die Piraten vertreten fühlen, diese Situation nicht nur als prekär erleben, sondern auch eine Chance darin sehen. (Es stimmt trotz allem, dass man sich das leisten können muss. Die Piraten sind – wie die Grünen auch - eine aus dem bürgerlichen Mittelstand hervorgegangene Partei.)
Man wird sehen, ob die Formen von Problemlösungen, die in der Netz-Community entwickelt wurden: gemeinsamer, offener Austausch vieler Beiträger:innen zu einem Problem, Schaffung von Plattformen zur Organisation und Strukturierung von Kompetenzen, Erarbeitung eines vorläufigen, weiter zu optimierenden Lösungsvorschlages und offene Abstimmungen darüber, sich in die politische Arbeit übertragen lassen. Sie stehen konträr zu dem, wie Politik bisher funktioniert: hierarchische Strukturen, Arbeit in kleinen geschlossenen Zirkeln, Produktion von „fertigen“ Lösungsvorschlägen durch die Fachgremien, die in den oft relativ ahnungslosen Fraktionen abgenickt werden. Es hängt da viel dran: wie Lobbyismus funktioniert, wer „das Sagen“ hat, was als „zuverlässig“ gilt. Loyalitäten gegenüber Personen und Gruppen werden weniger eine Rolle spielen, wenn sich das durchsetzt; Abstimmungsverhalten wäre gleichzeitig transparenter und unvorhersehbarer.
Bärbel Höhn, die bei den Grünen zweifellos nicht mal zu den konservativsten und spießigsten gehört, offenbarte unfreiwillig, wie tief der Graben auch der einstigen Anti-Parteien-Partei zu einer auf Freiheitsrechte und unhierarchische Beteiligungsstrukturen pochenden Jugend inzwischen ist. „Ich guck mal Internet.“, sagte sie. Sie guckt und stellt bestenfalls ein, was vom Publikum geguckt werden soll. Netzplattformen regelmäßig zu nutzen, um zu einer Meinungsbildung zu gelangen, das kommt ihr nicht in den Sinn. Die Grünen haben mit Konstantin von Notz und Malte Spitz in der Bundestagsfraktion und im Vorstand zwar kompetente Vertreter, die der eigenen Partei erklären könnten, welcher Strukturwandel der Öffentlichkeit durch und im Netz stattfindet.
Aber nicht alle wollen das lernen. Hr-Online berichtet heute, dass im Main-Kinzig-Kreis Fraktionsvorstand Daniel Mack seinen Posten niederlegen musste, weil er nicht bereit war, Tweets und Posts auf seinem Blog zur Genehmigung den anderen Vorstandsmitgliedern vorzulegen (Mack schreibt unter seinem und nicht im Namen der Partei oder Fraktion.) So wird das nix. Bei den Grünen nicht und bei den anderen etablierten Parteien auch nicht. Wahr ist: Es bleibt nicht so, wie es war. Der Rechtfertigungsdruck für Politiker:innen nimmt durch eine veränderte Öffentlichkeit zu. Dass das für die Funktionäre nicht angenehm ist, kann man verstehen. Demokratisch ist es allemal.
Ganz ähnlich wie damals, als die Grünen einzogen, verhält sich das Etablishment ablehnend gelähmt. Wie billig das ist, wird mir heute viel bewusster als in den 80er Jahren, da war ich wohl noch zu jung, um das wirklich realsieren zu können.
AntwortenLöschenBestimmt gibt es viele Punkte, bei denen man Kritik an den Piraten üben kann und sollte, ihnen aber vorzuwerfen, dass sie mit dem Thema Datenschutz, Netzpolitik groß geworden sind, ist schlichtweg ebenso albern, wie es damals war, den Grünen ihre KOnzentration auf Umweltpolitik vorzuwerfen. Die Umwelt war in den 80er Jahren das Thema und heute ist es das Netz und die Art und Weise wie es sich auf unser und speziell auf das Leben der jungen Generation auswirkt.
Auf jeden Fall ist es sehr viel besser, die Menschen wählen die Piraten, als wenn sie aus lauter Frustration zu Hause bleiben.
Eine Partei wie die Piraten kann die Demokratie berreichern, schlimmstenfalls kann die Demokratie so eine Partei aushalten. Allemal besser als eine desillusionierte, unpolitische Gesellschaft.
Die Grünen hier im Main-Kinzig-Kreis blamieren sich gerade bis aufs Hemd, weil sie einen der ihren zensieren wollen. Statt sich zu freuen, dass sie in ihren Reihen einen Top-Politik-Twitterer auf Deutsch haben, ekeln sie ihn raus. Peinlich.
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