Mittwoch, 21. September 2011

LITERARISCHES SCHREIBEN IM WEB 2.0 (Hoffnungen aus einem immer noch falschen Bewusstsein)

„Ziemlich klar ist, was wir beim Übergang aus der gutenbergschen in die elektromagnetische Kultur verlieren, nämlich all das, was uns als Erbe des Westens wertvoll ist. Hingegen sehen wir nicht, was wir dabei gewinnen. Könnten wir das, dann hätten wir die Stufe der neuen Denkart bereits erklommen. Indem wir aber versuchen, uns in die nominalistische Denkart, etwa in das Leben und in die Gedichte des Franz von Assisi zu versenken, können wir unserr Zukunft erahnen. Sola fide?“

Platon sah in der Schrift eine Gefahr für das Denken, schlimm sei sie, sagte er zu Phaidros, weil sie doch still stelle, was lebendig sein müsse, weil sie sich mimetisch den Anschein gebe, ein Gespräch in Gang zu setzen, gerade dieses aber verweigere. Für ihn, Platon, war die Schrift ein Angriff auf die Prinzipien des philosophischen Diskurses: ein Ausweichen vor der exklusiven Verantwortung für das eigene Denken und Sprechen, der sich der Philosoph „von Angesicht zu Angesicht“ stellen müsse, und ein Feststellen von Gedanken, die doch per se ihren Wert allein aus der Möglichkeit bezögen, im Gespräch unmittelbar bezweifelt, kritisiert und weiter gedacht zu werden. Als Jahrtausende später der Buchdruck sich durchsetzte, führten die Mönche ganz ähnliche Argumente gegen das neue Medium ins Feld: Es sei eine „Hure“, die das Charakteristische der Handschrift verschwinden lasse, um sich gemein zu machen mit dem Pöbel und das individuelle Buch in einen Massenartikel verwandle.

Weil es bei diesen Kulturkämpfen um Medien immer auch um Marktanteile, Geschäftsmodelle und Machtpositionen ging, sind die vorgebrachten Argumente stets mit moralischen Vorwürfen kontaminiert: der Schreiber ist anonym, verantwortungslos und gedankenscheu; der seine Texte Druckende faul, promiskuitiv und käuflich. Die Nutzer und Produzenten des neuen Mediums werden vom jeweiligen Establishment, das seine Pfründe gefährdet sieht, eben mit allen Mitteln bekämpft. Im bürgerlichen Zeitalter gerät schließlich die Eigentumsfrage in den Mittelpunkt der Debatten. Ein Copyright wird erstritten und durchgesetzt, das „geistiges Eigentum“ schützen soll. Auch die Diskussionen um Urheberrecht, Leistungsschutzgesetz und Open Sources, die gegenwärtig geführt werden, haben in diesen längst vergangen scheinenden Auseinandersetzungen ihre Wurzeln.

Es geht um die jeweilige Haltung zu den Kategorien: Autorschaft, Originalität, Öffentlichkeit. Und es geht um Geld, d.h. für Autor:Innen literarischer Texte um die Frage: Kann ich vom Erzählen leben? Und wie? Es geht aber auch darum: Wie verändert ein neues Medium das Erzählen selbst?

Dazu einige Thesen:

Autorschaft
Die Aura des Autors verglüht. Hybride Autor:Innen treten auf, verantwortungslos, scheu, auftrumpfend, laut, leise, heute hüh, morgen hott. Alle Vorwürfe des Platon treffen sie – und gehen an ihnen vorbei. Denn sie wollen sich nicht mehr erkennbar machen, indem sie auf den Marktplätzen vor dem Publikum elegant auf und ab spazieren, sondern Herausgeber:innen ihrer multiplen Persönlichkeiten sein. Sie knöpfen ihr Mäntelchen auf und lassen jede/n auf ihre nackte Haut schauen. Aber sie tragen Masken. Sie steigen überall zu und nehmen jeden auf und mit - wie die Nutten an den Ausfallstraßen. Aber es fehlt ihnen die ganze Romantik einer Kameliendame. Ihr könnt ihnen vertrauen, weil sie euch nichts mehr vormachen, sondern nur noch nachstellen. Der fiktionale Autor wird zur fiktiven Herausgeberin. (geschlechtsneutral zu lesen!)

Originalität
Es geht immer um was Neues. Nur das Original kann als „geistiges Eigentum“ gelten. Aber: Jede zitiert jeden. Es gibt halt nicht Neues mehr unter der Sonne. Kombinatorik, Fragment, Collage. Die Moderne lässt grüßen. Trotzdem hätten wir es gern gesehen, wenn etwas Originelles erschiene. Hypertext, Links, Copy & Paste – nichts bleibt verschont. Was entsteht, lässt sich als Gegenstand längst nicht mehr fassen. Der Hand-Fetisch Buch vermag nur noch Menschen mit besonderen Neigungen (andernorts Perverse genannt) zu binden. Das „Eigentliche“ ist nicht mehr „das Werk“, sondern „der Prozess“. Und weil er an kein Ende gelangt, kann sein Wert nicht festgestellt werden. Die Träume der Avantgarden des letzten Jahrtausends sind unsere Alpträume geworden. Doch Platons zweiten Vorwurf haben wir eingeholt: Was festgeschrieben war, wird in die unablässig strömende Timeline gespeist, auch auf die Gefahr hin, dass wieder jeder Tölpel als Kommentator mitquatscht, wie früher auf den Gassen von Athen (siehe hierzu: Der literarische Troll.  Ein Essay von Hartmut Abendschein in drei Teilen).

Öffentlichkeit
Das Publikum ist nicht die Hure, sondern der Freier. Das war schon immer so. Zweifellos konnte sich, wer schreibt und veröffentlichen will, leichter etwas vormachen, als man noch für die Wenigen, die „idealen“ Leser:innen schrieb. Da ließ sich eine Beziehung inszenieren, bei der sich ein Autor (meist männlich) scheinhaft von den Lesenden (meist weiblich) umwerben ließ. Dass in Wahrheit sie die zahlenden Gäste waren, die bedient werden wollten, wussten zwar alle Beteiligten, man verstand es aber, das hinter eingeübten Codes zu verbergen, genauso wie sich der Bürger (als Pendant des Künstlers) im plüschigen Bordell für einige Stunden der Illusion hingeben konnte, die Huren interessierten sich wirklich für seine Sorgen. Jetzt bewegt man sich auf dem Straßenstrich. Alle Illusionen dahin. Aber auch die Fixkosten werden geringer, das sollte man nicht vergessen. Jede kann senden und empfangen. Alle wollen Autor:innen sein. Es lesen aber auch mehr Leute (vielleicht weniger lange). Die Annehmlichkeiten des Erbes der strikten Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit sind wohl verloren. Dass auch viel unnützer Ramsch dabei war, der nur zur Tarnung der Geschäftsgrundlage diente, vergessen die jammernden Bildungsbürger gern. Alles Öffentliche ist fiktiv. Das haben die Klügsten immer gewusst, auch schon als sie noch Realismus und Authentizität für ein breites Publikum inszenierten. Machen wir uns ehrlich.

Geld und Ruhm
Alles ist fiktiv. Manches illusionär. Vor allem das Geschäftsmodell des „freien Schriftstellers“. Literarisches Schreiben hat sich noch nie wirklich rentiert. Immer ist es entweder darum gegangen, die Nachfrage zu bedienen (was heißt: nicht Literatur zu produzieren, sondern die Illusion davon) oder sich Nebenerwerbsquellen zu sichern (von der Festanstellung im bürgerlichen Beruf bis zum Reisenden in Sachen Selbst-Marketing gibt und gab es da viele Varianten). Die Währung „Anerkennung“ als Autor oder Autorin wird daher längstens nicht in Cent und Euro gemessen, sondern in Veröffentlichungen in den „seriösen“ Verlagen und in  lobenden Rezensionen in der „seriösen“ Presse. Die Entscheidung darüber, was gute Literatur ist und ob eine oder einer als Autor:in „durchgesetzt“ wird, liegt und lag in der literarischen Parallelwelt nicht in den Händen „des Publikums“, sondern seit je in denen einer kleinen Gruppe nur bedingt idealer Leser:innen, von einigen auch abfällig „der Betrieb“ genannt. „Der Betrieb“ steht nicht zufällig an der Spitze der Kritiker des neuen Mediums, denn seine Pförtnerstellung könnte tatsächlich abgeschafft werden. Neue Schlüsselpositionen entstehen: Portale, Top-Twitterer, Rankings in Online-Buchhandlungen. Mit mehr oder weniger Qualität hat das alles nix zu tun, auch wenn „der Betrieb“ das gerne glauben machen will. Schwieriger für die Produzent:innen ist, dass aus ihren Produkten keine Gegenstände (Bücher) mehr werden, sondern Content. Für dessen kommerzielle Verwertbar- und Messbarkeit ist noch kein schlüssiges Geschäftsmodell durchgesetzt. Es wird probiert: Online-Abonnements, flattr, Kulturwertmark. Man wird sehen. Kein Grund pessimistischer zu sein als ohnehin. Andere haben´s in der Marktwirtschaft auch nicht leicht.

Erzählen
Die Bedingungen des eigenen Mediums zu ergründen und zu reflektieren, ist seit je Kennzeichen aller Kunst. Diese Voraussetzungen für die Lesenden erfahrbar zu machen, d.h. ihnen das Loch zwischen Fiktion und Realität aufzureißen oder auch beide miteinander in einem solch wilden Tanz zu vereinen, dass sie voneinander nicht mehr zu unterscheiden sind, gehört seit der Moderne zum literarischen Handwerk. Die Schrift setzte der Fiktionalisierung wie der Illusion dabei Grenzen. Sie zwang zu einem regelmäßigen Nacheinander der Buchstaben, Worte und Sätze, die Erfahrungen nicht entspricht. Sie entwarf Gemälde als Wortkombinationen, die vorgaben, Wirklichkeiten zu beschreiben. Gerade die „realistischsten“ Darstellungen sind immer schon die phantastischsten gewesen (oder – um mit Platon zu denken – die verlogensten). Im Netz wird die Chronologie umgekehrt (das Neueste zuerst, man muss jetzt zurück scrollen, um weiterzulesen) und aufgehoben (alles ist verlinkt und kann nebeneinander betrachtet und gelesen werden). Den Rahmen der seriellen Erzählungen stiftet das Medium (das Blog) selbst, nicht mehr die Rahmenhandlung. Das digitale Erzählen verwandelt die Erinnerung an Fiktionen in Realität. Autor:innen haben früher schon davon erzählt, wie sie schreibend das Erfundene erinnern. Jetzt gelangt alles ins Cache. Nichts kann fertig werden. Das Werk wird zur Fiktion. Wir stehen immer am Anfang, nämlich auf der ersten Seite: der Homepage. Erzählen wird zum Übergeben; im doppelten Wortsinn: des Ausspuckens und des Weggebens. Man muss locker lassen, bloß nicht verkrampfen. Es lohnt nicht das Vergängliche festzuhalten, man trägt nur bei (Post it!) zum (Daten-)Strom.

„Jeder alphabetische Versuch, den Abgrund in Richtung ´digital´ zu überbrücken, muß fehlschlagen, weil er seine eigene lineare, zielstrebige Struktur ins Digitale hineinträgt und damit das Digitale zudeckt. Daher ist das eben vorgeschlagene alphabetische Modell des Bewusstseins nach Gebrauch auszuradieren. Dasselbe gilt für diesen ganzen alphabetischen Essay in dem Maße, in dem er versucht, über das Schreiben hinauszuschreiben. Die provisorischen Hilfsfigur, die er liefert, ist mit gebührendem Misstrauen an das Neue anzulegen und dann auszulöschen.“


(Zitate an Anfang und Ende aus: Vilém Flusser: Die Schrift.)

 Dies ist mein Beitrag zu der Blogparade: Storytelling. Storyselling.


2 Kommentare:

  1. meine erfahrung: die sog. „freien Schriftsteller“ als unfreie überhaupt. der "freie Schriftsteller" tritt mitte oktober im kulturcasino einer schweizer stadt auf, anlässlich einer medienpreisvergabe irgendeiner kommunikationsklitsche, die mir - mit rechtschreibfehlern gespickte - einladungen schickt. der "renommierte Schriftsteller" wird darin als "Entertainment" angekündigt. das sei der kommunikationsbranche wenigstens anzurechnen, dass sie hier klartext spricht. danach gibt es ein apéro riche. (so sieht die freiheit aus. wem das nicht peinlich ist ...) (btw.: im o.g. essay kommen noch ein paar teile hinzu ...) (und btw. 2: eigentlich sollte man die ganzen, gerade entstehenden essays mal etwas bündeln ...)

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  2. Sollte man/frau, eigentlich.
    Freiheit entsteht ja eigentlich immer erst aus der Art, wie man seine Pflichten - gegen sich selbst und andere - erfüllt. Das heißt ja nix anderes, als dass, wer schreiben muss, eben dafür zu sorgen hat, dass sie/er es kann. Wie immer. So einen Kult drum zu machen: "Renommiertes Entertainment mit Aura-Abgang" sozusagen, war immer irgendwie lächerlich. Es ist aber - und das ist ja wieder spannend - nicht ausgemacht, ob nicht auch sehr lächerliche Figuren des Betriebs gute Texte schreiben können. Das weiß frau/man halt nicht.
    Die Kulturcasinos in der Schweiz sind sicher so schrill betulich, wie die Brecht-Abende "für eine guten Zweck" hier in der mainischen Provinz. Da ist´s gut, dass ich weiß, w i e ich mich übergeben kann. ;-).

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