Samstag, 10. September 2011

PUNK PYGMALION (15): ZERBROCHENES GLAS

Der Entwicklungs- und Liebesroman über meine Freundin Emmi und Ansgar, den Punk, dem sie im Sommer 1983 in Berlin verfiel und den sie mehr als zwanzig Jahre später wieder traf, nimmt eine Wendung, die ich nicht voraussehen konnte und die mir nicht gefällt. Ich bin sehr beunruhigt, denn Emmis Mutter hat mich angerufen und gefragt, ob ich von Emmi gehört habe. Ich erzählte, dass Emmi mir regelmäßig Postkarten aus der Provence geschickt habe. Ihrer Mutter hat sie auch welche geschickt, vier im Juli und drei im August. Doch vorgestern hat eine Freundin, die in Südfrankreich Urlaub macht, Emmis Mutter angerufen. Sie wollte Emmi in dem Haus der Familie in St. Ambroise besuchen, indem sie angeblich den Sommer verbringt. Das Haus war aber verschlossen und die Nachbarn sagten, dass Emmi nur kurz Ende Juni dagewesen sei und es seither leer steht. Emmi war nicht allein, sagen die Nachbarn, sondern in Begleitung eines jungen Mannes. Eines jungen Mannes, den die Nachbarn beschreiben, beinahe als hätten sie Ansgar getroffen vor einem Vierteljahrhundert: untersetzt, muskulös, mit einem schwarzen Irokesenschnitt, in Khakihosen und mit einem zerrissenen T-Shirt. Die Nachbarn sind sich sicher, dass die beiden ein Paar waren. Selbstverständlich haben sie sich das Maul über Emmi zerrissen, die Mitvierzigerin, die mit einem so jungen Mann unterwegs ist und sich so öffentlich seinen Handgriffen hingibt. Denn das haben sie Emmis Mutter auch brühwarm erzählt, nachdem die herumtelefoniert hat: Wie Emmi mit dem Kerl auf der Hauptstraße von St. Ambroise gestanden hat und der ihr unter den Rock griff.

Emmis Handy bleibt stumm. In ihrer Wohnung in Hamburg war die Mutter schon; sie ist aufgeräumt und leer. Auf Mails reagiert sie nicht, wie den ganzen Sommer über schon nicht mehr. Es bleibt nur Ansgar, an den ich mich wenden kann. Liest du noch mit Ansgar? Was ist zwischen dir und Emmi passiert, damals als du von deiner Reise durch Europa zurückkamst? (Ich hatte ihn nicht wieder getroffen, als er noch einmal zu Besuch war, bevor es nach Kopenhagen zurückging. Zu der Zeit war ich mit einer anderen Freundin an der Ostsee.) Und dann jetzt: Was war im Mai, das Emmi so veränderte, so kalt werden ließ? Ansgar, bitte antworte mir! Ich habe hier nur die Briefe, die du Emmi schriebst in jenem Sommer, erinnerst du dich?


Liebe Emmi,

ich bin unterwegs, weiter nach Süden, ich habe einen Zug genommen nach Wien und von dort direkt den nächsten nach Triest. Ich weiß nicht, wohin es mich noch treibt. Ich mag das, so unterwegs sein ohne Ziel. Mir fehlt nichts, nur Du. Es war so wunderbar und doch bliebst Du ganz stur. Wenn Du diesen Blick bekommst, wie ein waidwundes Reh und eine Hexe zugleich, kann ich Dich nicht mehr erreichen; manchmal möchte ich dich schlagen deshalb.

Oft denke ich an den Song „Breaking glass“ von Bowie und diese Zeilen:

Lately I´ve been breaking glass in your room again.
LISTEN. Don´t look at the carpet I´ve drewn something awful on it. SEE. You´re such a wonderful person, but you´ve got a problem...oooh, aaah, who´ll touch you?

Du bist ein Kind und hast gar keine Ahnung, was Du mir antust oder wer ich bin. Aber ich habe Dich zu einer Frau gemacht, die Du sein wirst. Es ist alles so wirr. Du hättest mir früher begegnen müssen, als ich noch offen war und gehofft habe. Aber da wärest Du 13 gewesen und ich hätte mich strafbar gemacht, wahrscheinlich.

Wenn wir wirkliche Menschen werden könnten, lange verlorene Gestalten mit endlosen Erinnerungen, was wäre dann? Emmi, dass ich Dich liebe ist keine Lüge, auch wenn ich nicht weiß, was die Wahrheit ist.

Meer oder Berge? Ich muss los.

Schreib mir nicht. Niemand leert meinen Briefkasten in Kopenhagen. Wir sehen uns wieder.

Warum bist du nicht mitgekommen, Emmi?
(Leg die Hände zwischen die Knie und press sie fest zusammen.)

Dein Ansgar


Ich will ehrlich sein, Ansgar, einmal: Ich habe Emmi und dich beneidet, um das, was ihr hattet. Dieses ungeheure Verlangen nacheinander, das einfach nicht stillhalten konnte. Ich habe mich auch geschämt für euch und mit euch. Deine Hände auf ihren Schenkeln, das werde ich nie vergessen: Mit deiner riesigen Hand konntest du ihn ganz umfassen.

Was ist passiert? Wo steckt Emmi? Ich werde Ansgar auch eine Mail schreiben, falls er dies hier doch nicht liest. Melde dich, Emmi, wenn du mitliest. Deine Mutter macht sich Sorgen. Ich auch.

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