Sonntag, 30. Oktober 2011

Mein Elternhaus

...ist verkauft. Meine Eltern ziehen im Januar nach Frankfurt, in die Nähe ihrer Kinder und Enkelkinder in eine Eigentumswohnung. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, hat eine Einwandererfamilie aus Russland gekauft.


Ich komme aus einem guten Elternhaus. Es ist solide gebaut und immer gut gepflegt worden. Den Keller für das Fundament hat mein Vater im Sommer 1966 an den Wochenenden eigenhändig ausgehoben. Meine Mutter brachte ihm Stullen auf die Baustelle oder eine Kanne mit Suppe. Auf den Fotos lächelt mein Vater, erschöpft aber stolz, mit einem kecken Sonnenhut und nacktem Oberkörper auf die Schaufel gestützt in die Kamera. Mein Vater ist als Kind in Frankfurt ausgebombt worden. Die große vaterlose Familie wurde auf dem Land zwangseinquartiert. Die Bauern in diesen nordhessischen Dörfern sind karg und schroff wie der Boden, den sie beackern. Mein Vater hat wahrscheinlich so manche Tracht Prügel bezogen. Dort auf den Dörfern zählte damals nur der Grund und Boden, den einer besaß. Wer kein Haus hatte, war ein „Zugereister“ – und blieb es. Zur Miete wohnen galt fast schon als asozial. Alle Brüder meines Vaters haben sich Häuser gebaut.

Meine Mutter ist in A. geboren. Im Geschichtsbuch über das Dorf ist ein Foto der Familie meines Großvaters mütterlicherseits zu sehen, das den ältesten Bruder Christian 1920 als „letzten Kriegheimkehrer“ mit seinen Eltern und seinen neun Geschwistern zeigt. Stocksteif, wie auch ich sie noch gekannt habe, steht Tante Grete neben meiner Urgroßmutter. Einen Schritt hinter den Frauen hält sich mein Urgroßvater, umringt von seinen drei Töchtern und sieben Söhnen. Mein Großvater ist der Jüngste, aufgeregt den Bruder begrüßend. Weiter hinten in dem Bildband ist eine Porträtaufnahme meines Urgroßvaters abgebildet; ein sanfter Mann mit einem zerfurchten Knautschgesicht, in dessen Linien ich die Züge meines Großvaters erkennen kann, der sicher so ausgesehen hätte, wäre er alt genug dazu geworden. Die H.s waren in A. eine angesehene Familie. Mein Urgroßvater besaß eine Ziegeleifabrik am Bach. Aber auch als verschrobene Frömmler und „Gerechtigkeitsfanatiker“ sind manche der H.s „auf de Bach“, dem Familienzweig, dem auch ich angehöre, bekannt. Was der Urgroßvater besessen hatte, wurde auf die zehn Kinder verteilt. Die Fabrik überlebte die Teilung nicht.

1933 baute mein Großvater für seine kleine Familie ein Haus. Am Bach entlang ziehen sich links und rechts die Häuser von fünf seiner Geschwister. Nur eines der Häuser, das Elternhaus meines Großvaters, ist auch heute noch von Familienmitgliedern bewohnt. Doch die Kleinfamilie meines Großvaters gab es nicht mehr, als er, der in Kalifornien interniert war, quer durch den Kontinent und dann über den Atlantik 1949 zurückkehrte. Seine Frau war in der Kreisstadt bei einem Bombenangriff getötet worden. Die beiden Mädchen waren auf die Familien „an und auf de Bach“ verteilt und von den Tanten und Onkeln aufgezogen worden. Meiner Mutter, die fünf Jahre alt gewesen war, als ihre Mutter starb, schlang Tante Grete eine Leine um die Taille, die sie an ihrem eigenen Gürtel befestigte. Sie hatte viel zu tun auf dem Hof, ohne die Männer, und keine Zeit, das Kind zu beaufsichtigen. Aber sie schwor sich, dass es „heil“ sein würde, das ihr anvertraute Kind, wenn der Bruder einmal zurückkam. Er erfuhr erst ein Jahr vor seiner Entlassung, dass seine Frau tot war. Erst da erhielt auch die Familie in A. wieder Nachricht von ihm. Der lang ersehnte Vater kehrte heim. Aber er war nicht, wie meine Mutter sich ihn geträumt hatte. Er wanderte die zehn letzten Kilometer vom Bahnhof in der Kreisstadt nach Hause. Doch er kam über den Kirchberg. Denn sein erster Weg ging zum Grab seiner Frau. Der da herunterkam, so ist es auch mir von allen immer wieder erzählt worden, „war ein gebrochener Mann.“  Sie hätten ihn erst gar nicht erkannt, sagten seine Brüder. Er wollte mit den Kindern allein zurück in sein Haus. Das redeten sie ihm aus. Er brauche eine Frau für den Haushalt, meinten sie. Da gebe es doch eine unverheiratete Schwester seiner Frau. Die kam. Meine Mutter rannte durchs ganze Haus, die Treppen hinauf und hinunter, um die „Gote“, ihre Tante, nicht „Mutter“ rufen zu müssen, wie es jetzt von ihr verlangt wurde. Mein Großvater, glaube ich, zog sich in seine Werkstatt zurück. (In der lehrte er mich später das Hobeln und der Geruch von Sägespänen ist eine der stärksten Erinnerungen meiner Kindheit.)

Seinen Töchtern schenkte mein Großvater das einzige, was er neben der Kraft und Geschicklichkeit seiner Hände besaß: Das Haus, das er so hoffnungsfroh gebaut hatte, ging an die Ältere und ein Grundstück „im Brühl“ erhielt meine Mutter. Dort bauten meine Eltern 1966/67 das Haus, in dem mein Bruder und ich aufwuchsen. Auf einem der Fotos, die meinen Vater auf der Baustelle zeigen, bin auch ich im Sportwagen (so nannte man die Buggys früher) zu sehen. Ich kann mich an den Hausbau nicht bewusst erinnern. Als wir einzogen, war ich knapp drei Jahre alt. Mein Bruder wurde 1968 geboren. Um ihn und die Mama aus der Klinik abzuholen, fuhren der Papa und ich schon vom neuen Haus aus los. Das weiß ich noch. Mein Großvater hatte uns den riesigen Ami-Schlitten geliehen, der sonst unbenutzt in seiner Garage stand, denn mein Großvater hatte gar keinen Führerschein. Ich hätte mich, sagt meine Mutter, sehr auf das Brüderchen gefreut. Er war ein friedlicher Kerl, mein Bruder, moppelig, schläfrig und gutmütig.

Im Garten baute mein Vater einen Spielplatz mit Sandgrube und Schaukel für uns. Im Sommer rutschten wir kreischend vom kleinen Hügel ins Planschbecken und spritzten uns nass. Meinen achten Geburtstag feierte ich mit Freundinnen als „feine Damen“ in Cocktailkleidern bei einer „Gartenparty“. Und all die vielen Grillfeste mit Nachbarn und Freunden und Verwandten. Bis zu meinem 12. Geburtstag teilte ich mir mit dem Bruder das Zimmer, weil das obere Stockwerk des Hauses noch vermietet war. Mein Vater hat immer alles gut in Schuss gehalten. Die Delle, die ich 1979 in die Zimmertür meines Bruders trat, weil der mir einen Bravo-Starschnitt geklaut hatte, ist längst nicht mehr zu sehen.

Mein Elternhaus ist verkauft. Ich schaue das Album mit den Fotos an, die meine Eltern im Laufe der Jahre gesammelt haben. Wie wir vier unter dem Weihnachtsbaum Jahr für Jahr älter werden. Wir haben uns hier auch viel gezankt. Wir sind eine laute Familie. Und nicht sehr rücksichtsvoll. Trotzdem: Ich möchte glauben, dass es die Idylle, die diese Fotos festhalten, wirklich gegeben hat. Ich habe gern hier gelebt. Und wollte unbedingt weg.

Für meine Eltern fängt noch einmal ein neuer Lebensabschnitt an. Mit über 70 werden sie Großstädter. Meine Mutter hat noch nie woanders gewohnt als in A. Mein Vater ist vor 66 Jahren in Frankfurt ausgebombt worden. Jetzt zieht er wieder dort hin. Gestern half ich meiner Mutter beim Sortieren der Bücher und Bildbände. Was kommt mit? Was soll weg? Wie viele Bibeln sie hat! Eine ist von 1733, fast 10 cm dick. Eine Konkordanz steht immer griffbereit auf Augenhöhe. Ein Gesangsbuch von 1911 ist sorgsam im Schuber verwahrt. Bildbände dokumentieren die beiden Amerikareisen meiner Eltern, überall sind Zettel hineingestopft, Zeitungsausschnitte, die meine Mutter ausgeschnitten hat. Das Buch, das mein Vater von der Industrie-und Handelskammer 1956 als Anerkennung für „hervorragende Leistungen als Facharbeiter“ geschenkt bekam, steht neben seinen Lehrbüchern zur Fördertechnik, alle längst überholt natürlich. „Die nehme ich trotzdem mit“, sagt er. Sie sind aufgeregt. Und übermütig. „Ich freu mich auf was Neues.“, sagt meine Mutter. 

1 Kommentar:

  1. Es ist geschafft. Sie sind aus- (Montag) und eingezogen (heute). Wie das hingekriegt haben, meine Eltern (in ihrem Alter)!: Alles perfekt organisiert, an alle Details gedacht, die neue Wohnung eingerichtet bis in die Kleinigkeiten auf ihre Bedürfnisse hin. Bewundernswert, was für ein Paar sie sind, diese beiden, auch nach mehr als 50 Jahren gemeinsamen Lebens denkt eine/r immer für den/die andere mit. "Hier braucht deine Mutter eine Leiter." (ist im Schrank verankert), "Dein Vater sitzt am liebsten am Fenster" (sein Stuhl ist so gestellt), "Damit deine Mutter gut sieht" (flexible Deckenleuchten im Bad installiert), "Hier haben wir eine Kreuzschaltung gelegt" (damit sie vom Bett aus das Licht ausschalten können).

    Wie konnte die Tochter solcher Leute ein so unordentlicher, chaotischer und rücksichtloser Trampel werden wie ich?

    Ich bin stolz wie Bolle auf die beiden. Gerade habe ich mit meinem Bruder telefoniert und wir haben beide ein paar Rührungstränen verdrückt. Jetzt sind sie da! Und wir freuen uns so.

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