Sonntag, 20. November 2011

LIEBE AM ABGRUND. Heinrich von Kleists: Die Marquise von O.

Sie: Beinahe wäre sie Opfer einer Massenvergewaltigung geworden, wie sie im Kriegsgetümmel zum Alltag gehört. Frauen, denen das geschieht, können das Verbrechen kaum öffentlich anzeigen oder beklagen. Denn sie gelten als geschändet und sind fortan eine Schande für ihre Familien. Im letzten Moment rettet ein Tapferer sie vor diesem Schicksal, tröstet sie und verschafft ihr einen Moment der Ruhe inmitten der Gefahr. Sie sinkt erschöpft in einen tiefen Schlaf. Als sie wieder erwacht, ist der Retter, dem sie zu danken wünschte, schon weitergezogen.

Er: Die von einem Trunk betäubte bewusstlos ihm ausgelieferte Frau penetriert er, erregt durch den vorangegangen Kampf, die Geilheit der von ihm bezwungenen Kameraden und den halb entblößten, vor ihm hingestreckten Körper der Frau. Er nimmt sie sich her wie eine Puppe und entleert sich in sie. Erst später, auf ein Krankenbett niedergeworfen, wird ihm klar, dass er sie geschwängert haben könnte und was dies für sie bedeutete. Er entschließt sich, sie zu seiner rechtmäßigen Ehefrau zu machen.


Diese Geschichte erzählt Heinrich von Kleist in der Novelle „Die Marquise von O.“: die Frau ein Loch, das der Befriedigung des Mannes und der Fortpflanzung der Art dient; der Mann, ein seinen Trieben unterworfener Feigling und Heuchler, dessen Rohheit nur eine dünne Emailleschicht der Zivilisierung notdürftig  bedeckt. Die Frau muss erkennen, dass er – von dem sie glauben konnte, er sei anders, als jene, die ihr Gewalt antun wollten – die Gelegenheit nur geschickter genutzt hat. Der Mann müht sich lange, die Täuschung auch vor sich selbst aufrecht zu erhalten und redet sich ein, es ginge nur darum, die gesellschaftliche Norm zu erfüllen, das eheliche Vertragsverhältnis herzustellen, wodurch auch der ursprüngliche Übergriff rückwirkend zu rechtfertigen sei: „dass die einzige nichtswürdige Handlung, die er in seinem Leben begangen hätte, der Welt unbekannt, und er schon im Begriff sei, sie wieder gut zu machen, dass er, mit einem Wort, ein ehrlicher Mann sei...“

Kleists „Marquise von O.“ ist eine ungeheure Zumutung für seine Geschlechtsgenossen. Sofort wollen sie ihre Frauen und Töchter vor der unschicklichen Lektüre des Textes schützen. Und auch sittsame Weiber verwahren sich gegen diese Darstellung des Geschlechterverhältnisses und seiner Konsequenzen. Denn Kleist geht der Sache auf den Grund: Er entlarvt das ganze (auch literarische) Konstrukt partriarchalischer Ehrbegriffe als peinliche Farce. Denn hier geht es nicht mehr darum, dass die Frau außerhalb der Ehe benutzt wird, sondern prinzipiell darum, dass sie benutzt wird. Die Marquis erlebt ohne die täuschenden Romantizismen und Verblendungen bürgerlicher Ideologie, was in deren Ursprung sumpfig schlummert: ein Geschlechterverhältnis, in dem die Frau gleichzeitig zum Schwan erklärt  („wie er die Vorstellung von ihr ... immerzu mit der Vorstellung eines Schwanes verwechsel hätte“) und mit Kot („da er diesen Schwan einst mit Kot beworfen, worauf dieser stlll untergetaucht und rein aus der Flut wieder emporgekommen sei“) beschmutzt wird, in dem sie nichts ist als das Objekt männlicher Begierden – nach Überhöhung und Liebe, genauso wie nach Penetration und Erguss. Dafür ist sie halt da. Und – selbstverständlich – um ihm Kinder zu gebären. Einzig die Konstruktion der Ehe bietet ihr einen gewissen Schutz: hier hat sie immerhin nur einem Einzigen zur Verfügung zu stehen und genießt darüber hinaus gesellschaftliche Akzeptanz.

Die Frauen in Kleists Novelle wissen das. Die Mutter der Marquise ist bereit, der Tochter den „Fehltritt“ eines außerehelichen Sexualkontaktes zu vergeben („Ein Fehltritt, so unsäglich er mich schmerzen würde, er ließe sich, und ich müsste ihn zuletzt verzeihn.“) Man muss halt pragmatisch schauen, wie man ein solches Desaster gesellschaftlich überlebt. Die Hebamme kennt mehrere Fälle verwitweter Frauen, denen so was passiert ist: „Die Hebamme...sprach von jungem Blut und der Arglist der Welt; äußerte, als sie ihr Geschäft vollendet hatte, dergleichen Fälle wären ihr schon vorgekommen;...gab ihr auch Mittel an, wie man in solchen Fällen dem Leumund der Welt ausweichen könne; und meinte es würde schon alles gut werden.“ Der ganze Ehrbegriff der Männer, der sich über die Alleinherrschaft über die Möse ihrer Ehefrau oder Tochter definiert, wird von den Frauen als eine bloß gesellschaftliche Konvention (die den Männern dient) abgetan, der man sich unter den gegebenen Verhältnissen nach außen hin zu beugen hat, um hinter den Kulissen zu schauen, wie Frauen sich gegenseitig aus der misslichen Lage helfen können, wenn eine doch einmal mit einem Mann Sex gehabt hat, der (noch) nicht ihr Ehemann ist und daraus eine Schwangerschaft entsteht.

Was aber der Marquise geschehen ist, geht über diesen „Normalfall“ der Verlogenheit zwischen den Geschlechtern hinaus. Sie weiß tatsächlich nicht, wer der Vater ihres Kindes ist. Die Ungeheuerlichkeit, die ihr zugestoßen ist, besteht nicht darin, dass ihr ein Mann „die Ehre“ genommen hat, weil er sich ihrer bedient hat, ohne sie zu seiner Ehefrau zu machen. Vielmehr hat er sie ohne ihr Wissen benutzt. Damit bildet die Situation der Marquise von O. eine Zuspitzung des Zustandes bürgerlicher Ehefrauen ab: Auch diese willigen in den  Vertrag über die sexuelle Verfügbarkeit (vulgo: Ehe) häufig nur ein, weil ein „Mondtrunk“ aus romantischen Verklärungen in Gestalt liebender Schwäne und rettender Engel sie betäubt.

Dass Kleist die Vergewaltigung durch den „ehrlichen“ Herrn keinem jungfräulichen Mädchen geschehen lässt, ist doppelt bedeutsam. Es geht hier nicht darum, ein Jungfernhäutchen zu hüten (auch so eine männliche Wahnvorstellung: der Erste und Einzige sein, der eindringt).  Es ist eine Frau, der die Vergewaltigung geschieht, die sich als lustvoll Liebende noch nie erlebt hat, die aber als mehrfache Mutter die Symptome der Schwangerschaft genau erkennt. Die Erfahrungen in ihrer Ehe haben sie nach dem Tod ihres Mannes zu der Entscheidung veranlasst, sich nie wieder zu vermählen. Diese erwachsene Frau hängt noch immer Mädchenträumen vom männlichen Retter an, die sie in dem Mann verkörpert sieht, der sie vor den lüsternen Kriegsknechten gerettet hat. Dass eben jener Mann, dem sie romantische Gefühle entgegenbringt, sich an ihr verging, ist die zweite Ungeheuerlichkeit, der sie ausgesetzt ist.

Was Kleist damit in „Die Marquise von O.“ verhandelt, ist eine doppelte Emanzipation: die Marquise von O. wird diesmal nicht „natürlich“ Mutter, sondern entscheidet sich in einem Schritt, der sie von der Gesellschaft scheidet, für diese Mutterschaft. Sie beschließt in ihrer verzweifelten Lage, ihr Leben allen ihren Kindern, den ehelichen wie dem unehelichen, zu widmen. Sie verlässt ihre Familie, richtet sich auf ihrem Landsitz selbstständig ein und sucht öffentlich nach dem Vergewaltiger durch eine Zeitungsannonce. Damit bricht sie gleich mehrfach die Tabus, auf denen der gesellschaftliche Konsens beruht: Sie anerkennt ihre Verpflichtung gegenüber allen Kindern als gleichwertig, unabhängig von der sozialen Abkunft; sie gründet eine Familie, der nicht der patriarchalische Hausvater vorsteht, sondern die Frau, aus deren Leib die Kinder geboren werden und sie gibt öffentlich die Tatsache einer unehelichen Empfängnis bekannt. Damit fordert sie die Gesellschaft heraus, denn sie entzieht ihr die Grundlage: die Möglichkeit des Aus- und Einschlusses. Es kann nichts mehr vertuscht werden.

Gleichwohl will sie wissen, wer ihr das angetan hat. Sie ist bereit, um dem Kind Rechtssicherheit zu geben, den Täter zu heiraten. Das öffentlich annoncierte Eheversprechen einer Marquise kann zugleich als Lockmittel verstanden werden, dass einen Mann niederen Standes dazu bewegen wird, sein Verbrechen zu gestehen. Als sich hierauf der Graf meldet, jener Mann, der ihr als engelsgleicher Retter erschienen ist, und in den sie sich verliebt hat, bricht sie zusammen. Dass er, dem sie romantische Liebesgefühle eines Mädchenherzens entgegenbringt, der Vergewaltiger ist, zerreißt sie ein zweites Mal. Ihre Mutter ermahnt sie, doch daran zu denken, dass sie Mutter sei und sie erwidert: „dass sie in diesem Fall mehr an sich, als an ihr Kind denken müsse.“  Erst als ihr Vater einen Kontrakt aushandelt, in dem der russische Graf auf alle ehelichen Rechte verzichtet, willigt sie in die Pro-forma-Hochzeit ein. Das ist der zweite Schritt zur Emanzipation: Sie entscheidet sich eine Frau zu sein, die keinem Mann mehr sexuell zur Verfügung steht, ohne ein eigenes Lustempfinden zu fühlen.

Kleist mutete damit seinen Zeitgenossen mehr zu, als diese ertragen konnten. Können wir heute unbefangener mit dieser Novelle umgehen? Die Zeiten, in denen Frauen als Besitz ihres Mannes galten, sind vorbei. Die Vergewaltigung selbst in der Ehe steht unter Strafe. Interpreten des Textes abstrahieren daher auch vom Geschlechterverhältnis und sehen in der „Marquise von O.“ eine generelle Infragestellung gesellschaftlicher Normen. Dass die Gesellschaft, in der wir leben, immer noch in ihrem Grunde auf dem von Kleist als pervertiert vorgestellten Geschlechterverhältnis basiert, wird dabei gern übersehen: Die Ehe ist bis heute die „Kerngemeinschaft“, von der sich bürgerliche Gesellschaft her definiert (bis hinein ins GG und ins Steuerrecht). Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ist immer noch keine Selbstverständlichkeit und wird heute mehr als je durch den gesellschaftlichen Zwang zur Sexualisierung und Warenförmigkeit zum Problem. Dass die Schwangerschaft eine Besetzung des Körpers der Frau ist, zu der sie sich frei entscheiden können muss, ist nach wie vor umstritten. Verklärungen, Selbstbetrug und Täuschungsmanöver beherrschen noch immer das Verhältnis der Geschlechter.

Kleists Marquise von O. vergibt zuletzt dem Grafen und lässt sich zu einer zweiten Vermählung überreden, der „eine ganze Reihe von jungen Russen folgte“.  Sie haben, so schreibt er, „glückliche Stunden“. Es kann dies kein anderes als ein zerbrechliches Glück sein, wenn eines in des anderen dunklen Grund geschaut hat.  Beziehungen, die nicht mehr auf Vertragsrecht und Besitzverhältnissen oder Verklärungen und Heilsversprechen beruhen, sind fragil. Kleists Novelle enthält an ihrem – für den Autor atypischen Ende – die Utopie, dass sie dennoch gelingen können. Vor dieser Herausforderung stehen wir auch 200 Jahre später noch: dass die Liebe dem Blick in den Abgrund entspringt - und: ihn überdauert.

4 Kommentare:

  1. Immer wieder ein Genuß, wie du die Dinge in nuancenreicher Sprache auf den Punkt zu bringen verstehst.
    Mousse au chocolat für den Geist.

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  2. Respekt! Ich kann mich amorphismen nur anschließen.

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  3. Sehr guter Text, enthält viele neue Aspekte! Gefällt mir gut!

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