Montag, 21. November 2011

"Den herrlichsten und wollüstigsten aller Tode" - zum 200. Todestag von Heinrich von Kleist

Vor 200 Jahren steckte sich  Heinrich von Kleist am Stolper Loch, nachdem er zuvor der todkranken Henriette Vogel in die Brust geschossen hatte, die Waffe in den Mund und drückte ab. Kleists literarisches Werk wird seither von diesem Endpunkt her verstanden. Das ist natürlich Unsinn: Der erweiterte Selbstmord eines beruflich gescheiterten 34jährigen im Jahre 1811 bliebe uns zweihundert Jahre später unbekannt und ließe uns, erführen wir doch durch einen Zufall davon, im Grunde gleichgültig, wäre der, der sich hier das Leben nahm, nicht der Autor so erschreckend sonderbarer Werke, in denen Fanatiker der Liebe, des Rechts, des Krieges sich zum empörten und empörenden Widerstand gegen die Allmacht der Prozesse, Systeme und Organisationen erheben. Der Tod fügt diesem Werk nichts hinzu; er nimmt ihm auch nichts weg. 

Der Tod am Kleinen Wannsee ist keine Antwort, die das Rätsel dieser Werke löst. Denn das „Moderne“ seiner verstörenden Texte liegt in der Willkürlichkeit allen Geschehens, in dem Wissen, dass kein Schicksal waltet, kein Gott wirkt, keine Heimat ist, kein Sinn sich stiftet. Es hätte alles auch ganz anders kommen können. Jeder könnte auch ein anderer sein. Die „Gebrechlichkeit der Welt“ lässt Happy Ends so gut zu wie Katastrophen. Dagegen begehren die Figuren dieser Novellen und Dramen in einer wahnwitzigen Anstrengung auf: Kätchen, die irrsinnig Liebende, die sich aufrappelt und weiter dem Stahl hinterher trottet, der sie mit Füßen getreten hat, Kohlhaas, der rechtschaffendste Mann, der zum Terroristen mutiert, Penthesilea, deren Küsse Bisse werden.

„Die Wahrheit ist“, schreibt Kleist, im letzten Brief an seine Schwester Ulrike, „dass mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Der vielzitiert Satz, von dem her Kleists Werk auf den notwendigen Selbstmord hin gedeutet wird, steht in einem Zusammenhang: Er will die Schwester, den ihm nahestehendsten Menschen, darüber trösten, dass sie ihm nicht zu helfen vermochte. Auch jene anderen häufig zitierten Briefstellen, die die Unumgänglichkeit des Freitodes belegen sollen, werden meist nur aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben: „Dadurch dass ich mit Schönheit und Sitte, seit meiner frühesten Jugend an, in meinen Gedanken und Schreibereien, unaufhörlichen Umgang gepflogen, bin ich so empfindlich geworden, dass mich die kleinsten Angriffe, denen das Gefühl des Menschen nach dem Lauf der Dinge hienieden ausgesetzt ist, doppelt und dreifach schmerzen.“  „Die kleinsten Angriffe“ – das ist nicht verallgemeinert, das hat in diesem Brief einen konkreten Bezug: Er saß zu Tisch bei einer Gesellschaft zwischen seinen Schwestern und sie schämten sich, so schien ihm, für seine literarischen und journalistischen Misserfolge. Das tut weh, jeder und jedem, zweifellos, und einem empfindlichen Menschen besonders. Es ist aber kein zwingender Grund, aus dem Leben zu scheiden. Der Versuch Kausalität herzustellen gegen die reine Willkür der Depression, eine letzte negative, teleologische Anstrengung, der Kleist sich unterzieht, und der seine Interpreten folgen, widerspricht dem, was sein Werk vorstellt.

Wahr ist, oder es ist mindestens die Wahrheit, die er der Nachwelt zu übermitteln versuchte, dass allein der Tod ihn heiter stimmte. Den Tod zu wollen, ist ein letzter Triumph über die Kontingenz des Lebens. Mindest ihm schien es so. Oder - er wollte es so erscheinen lassen: Die Inszenierung des heiteren Frühstücks im Novembermorgen am Wannsee als Botschaft, dass der letzte Augenblick kein fremdbestimmter gewesen sei, sondern der Abschluss eines  auf diesen Schluss folgerichtig sich hin entwickelnden Dramas: Mein Leben - mein Tod. Es ist nur die Dummheit einer vor-kleist´schen Forderung nach Authentizität und Identität, die eine solche Inszenierung als Fake nimmt. Das Spiel ist ernst. Am Ende liegen zwei Leichen am See.

Zwei? Auch das wirft Fragen auf. Was machte es ihm so nötig, mit einer Frau gemeinsam zu sterben? Von der todkranken Henriette Vogel fühlte er sich verstanden wie nie: „Rechne hinzu, dass ich eine Freundin gefunden habe, deren Seele wie ein junger Adler fliegt, wie ich noch in meinem Leben nichts Ähnliches gefunden habe; die meine Traurigkeit als eine höhere, festgewurzelte und unheilbare begreift, und deshalb, obschon sie Mittel genug in Händen hätte mich hier zu beglücken, mit mir sterben will; die mir die unerhörte Lust gewährt, sich um dieses Zweckes willen, so leicht aus einer ganz wunschlosen Lage, wie ein Veilchen aus einer Wiese, heraus heben zu lassen; die einen Vater, der sie anbetet, einen Mann, der großmütig genug war sie mir abtreten zu wollen, ein Kind, so schön und schöner als die Morgensonne, um meinetwillen verlässt: und Du wirst begreifen, dass meine ganze jauchzende Sorge nur sein kann, einen Abgrund tief genug zu finden, um mit ihr hinab zu stürzen. – Adieu noch einmal.“ Diese fürchterliche Textstelle  aus dem zweiten Brief an Marie von Kleist wird weitaus seltener zitiert. „Um meinetwillen“ – ging es darum? Dass er allein sich die (negative) Bedeutung seines Lebens auch im gewollten und selbst herbeigeführten Tod nicht versichern konnte, sondern hierfür die Fiktion einer Opferung brauchte? Einer Frau, die bereit ist, „sich aufzuopfern, ganz für das, was man liebt, in Grund und Boden zu gehen: das Seligste, was sich auf Erden denken lässt, ja worin der Himmel bestehen muss, wenn es wahr ist, dass man darin vergnügt und glücklich ist.“ Diese Kunst, schreibt er in vorangegangen Absatz bitter, habe Ulrike, die Schwester, nicht verstanden.

Kleists Todesbriefe sind so schön wie grausam. Sein Tod ist wo wenig eine Antwort (selbst wenn er versuchte ihn so zu inszenieren) auf das Leben, seines und keines, wie seine Werke Antworten auf gesellschaftliche oder philosophische Problemstellungen. Lauter Fragen? Fantastische Fragen. Das ist viel. Kaum einer gab mehr.

"...meine ganze Hoffnung beruht auf Dich..."
Brief an Ulrike


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Und ich möchte diesem (Geschwister-)Paar nachforschen: Ulrike, die er in seinen letzten Stunden so heftig angriff und dann wieder in Schutz nahm - Wer war sie, die den Mut hatte, in Männerkleidung zu reisen, aber sich nicht (für ihn?) opfern wollte?


Weitere Beiträge zum Kleist-Jahr:
Badeknecht Wetter vom Strahl
Liebe am Abgrund: Heinrich von Kleists "Die Marquise von O."


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