Die Diskussion über „Mitleid“, die im Kommentar zu meinem Post vom Samstag geführt wird, ist eine sehr alte. Schon Spinoza outete sich als Verächter des Mitleids. Für das Mitleid in die Bresche sprangen dagegen Lessing und Schopenhauer. Zuletzt sprach noch einmal Käte Hamburger dem Mitleid die ethische Qualität ab.
Claudia („Sammelmappe“) möchte den Begriff des Mitleids retten, meint jedoch damit ausdrücklich nicht jene Wohltätigkeit, die ungerechte Verhältnisse stabilisiert, aber auch nicht eine Gefühlslage, die aus der (vermeintlichen) Einfühlung in den Anderen Erwartungshaltungen und Zuschreibungen ableitet. Ganz genau habe ich noch nicht verstanden, wie Claudia den Begriff versteht. Es geht ihr aber durchaus um eine ethische Qualität, also um eine Tugend. Tugend kann man im Sinne einer Fähigkeit verstehen, die angeboren ist, aber ausgebildet werden muss, um sich voll entfalten zu können. Ich weiß nicht genau, ob Claudia das so gemeint hat. Sumuze hat ihren Mitleidsbegriff dargelegt. Sie leitet das Mitleid aus der Fähigkeit zur Identitfikation her: „Dass ich fühlen kann, was du fühlst.“ Diese Fähigkeit unmittelbarer Einfühlung ist für sie die Voraussetzung, dass Menschen sich überhaupt miteinander verständigen können. Das Mit-Leid ist in diesem Verständnis eine besondere Form des Mit-Gefühls - wie Mit-Freude, Mit-Schrecken, Mit-Lachen auch. Ob für Sumuze damit eine ethische Kategorie verbunden ist, die über den Instinkt hinausgeht, habe ich nicht ganz nachvollziehen können. Der Vorzug des Mitleids gegenüber „mechanischen“ Überlegungen ist jedenfalls die Unmittelbarkeit.
Mir geht es vor allem um die Frage: Kann das Mitleid, wie beispielsweise Smith und Lessing im 18. Jahrhundert hoffnungsvoll annehmen, als eine moralische Kategorie wirken, die den Einzelnen und die Gesellschaft „verbessert“? In dieser Frage schlage ich mich auf die Seite der Mitleids-Skeptiker. Auch Lessing und andere haben sich gefragt, worauf sich das Leiden des Mitleidenden bezieht: Leidet er mit, weil er sich selbst an die Stelle des Leidenden denkt? Oder leidet er, weil er sich in den Leidenden hinein denkt/fühlt? Im ersten Fall könnte das (Mit-)Leiden ihn lähmen, die „gute Tat“ also gleichsam verhindern, weil er selbst zum fiktiven Leidenden wird. Es ist diese Haltung, die ich gelegentlich als „Betroffenheit“ beobachte. Es geht mir dabei gar nicht darum, die Gefühle, die empfunden und dargestellt werden, als „unechte“ zu qualifizieren. Sie sind jedoch moralisch unwirksam, weil sie das Leiden auf denjenigen projizieren, der nicht direkt leidet und damit diesen selbst in den Hilfsbedürftigen verwandeln. Es trösten sich dann gegenseitig häufig die „betroffenen“ Unbeteiligten. Um jetzt erst zur helfenden Handlung fähig zu werden, so stellte sich Lessing das vor, muss der Verstand zwingend hinzutreten und eine Selbstdistanzierung eintreten. Das pure Gefühl kann nicht moralisch wirken. Die Einfühlung in den Leidenden indes birgt andere Gefahren: Sie setzt voraus, dass es pure, unmittelbare Reaktionen auf das Leiden gibt, die jeder andere Mensch ebenso unmittelbar mitfühlen könne. Daher reagiert sie auf eine ihr fremdartig erscheinende Reaktion beim Leidenden auch mit Abstoßung, oft mit Empörung. Der Leidende verhält sich im Auge des Mitleidenden in diesem Fall nicht angemessen zu seinem Leid. Mir geht es zum Beispiel bei einer unreflektierten Betrachtung orientalischer Trauer so, da ich das laute Schreien und Sich-an-die-Brust-schlagen als unangenehm empfinde. Die Fremdheit verhindert bei mir das unmittelbare Mitleid (das sich ganz selbstverständlich einstellt, wenn es mir leicht fällt, mich zu identifizieren). Gerade weil das einfühlende Mitleid das Fremde ausschließt, in das die Einfühlung nicht gelingen mag, halte ich Mitleid nicht für eine geeignete moralische Kategorie.
Dass wir jenen Gutes tun, die uns ähneln und von denen wir annehmen, dass wir sie verstehen, ist vielleicht tatsächlich „natürlich“, manche Biologen meinen, es sei arterhaltend. Moralisch wird es aber erst, wenn wir fürsorglich und gerecht auch gegenüber dem Fremden sein könnten, was ungleich schwerer ist. Daher glaube ich, dass die Ethik einer Gesellschaft eher aus zunächst inhaltsleeren vernünftig hergeleiteten Rechtsvorschrift wie dem Kategorischen Imperativ Kants oder den Grundsätzen der "Gerechtigkeit als Fairness" John Rawls hergeleitet werden sollte, als aus einem unzuverlässigen Gefühl wie dem Mitleid.
Doch verstehe ich auch die Skepsis gegenüber einer rein „mechanischen“, d.h. logisch hergeleiteten Moral. Es kann diese ja auch zweifelsfrei immer nur bestimmen, was wir einander nicht antun dürfen, dagegen ist die Frage, wie viel wir einander schulden, wie viel Fürsorge, Zuwendung, Anteilnahme, durch Recht allein nicht zu beantworten. Daher braucht es auch die Liebe. Mit ihr ist es aber wie mit allen Gefühlen: die meisten von uns sind überfordert, allen gleich starke entgegenzubringen. Das Recht sichert die Fremden vor unserem Mangel an Mitgefühl und uns vor deren mangelndem Einfühlungsvermögen. Die Liebe aber ermöglicht es, die Bedingungen, unter denen oder zu denen geholfen, getröstet, aufgefangen wird, außer Kraft zu setzen und bedingungslos „da zu sein“. Es übersteigt menschliches Vermögen (außer vielleicht das der Heiligen), diese Bedingungslosigkeit umfassend zu leben. Sie bleibt exklusiv jenen vorbehalten, die wir lieben. Das ist nicht gerecht.
Der Behauptung, das „pure Gefühl kann nicht moralisch wirken“, möchte ich widersprechen. Oder zumindest sie dergestalt ergänzen, daß die reine Vernunft dieses ebenso wenig kann!
AntwortenLöschenÜberhaupt geht mir die Gegenüberstellung des 'Vernünftigen' zum 'Gefühligen' als das Zuverlässigere ziemlich gegen den Strich.
Einmal weil sie dem Entwurf einer sozialen Ethik das trockene Zubrot des zu Verordnenden und Durchzusetzenden (und damit all den Plunder von Macht und Herrschaft usw.) schon gleich mit in die Wiege legt, kaum daß das zarte Pflänzlein seine ersten, zaghaften Gehversuche im Freien hat machen dürfen. Zum anderen weil ein solcher Entwurf Gesellschaftlichkeit und ihre Momente auf eine für mich sehr seltsame Weise 'im Nachhinein' zu konstruieren sucht, welche doch viel eher das Vorherige jeder Ethik sind, die mir ihrerseits niemals ohne mindestens zwei interagierenden Menschen, zwischen denen überhaupt Ethik geschieht, vorstellbar ist.
Ich glaube nämlich nicht, daß von oder über Moral und Ethik sinnvoll gesprochen werden kann, ohne Gesellschaft bereits vorauszusetzen, also ein Handlungsgeflecht, innerhalb dessen diese Begriffe angesiedelt sind. Und noch viel weniger leuchtet mir ein, daß Regeln, die erst mit Hilfe eines ganzen Apparates von Machtmitteln oktroiert werden müssen, das alltägliche Handeln jemals 'zuverlässig' anleiten können. Mit Macht (sei es die des Polzeiknüppels, die des Dispolimits, die der Gebete oder die der raunenden Beschwörungen) im Rücken bedarf Ethik keinerlei Begründung außer der einen, daß sie durchgesetzt werden kann. Was jeder noch so 'vernünftigen' Herleitung ihres Seins stets den Geruch des Beschönigens verleiht und den sich auf dieses Form stützenden Freilandversuchen oft ein rasches Ende bereitet hat.
Für mich wird das klarer, wenn ich im Alltag mich umschaue. Wer etwa mit halbwegs offenen Augen verfolgt, was in einem Altenpflegeheim täglich vom Personal abverlangt wird, so als ließe sich eine 'soziale' und 'humane' Pflege bedürftiger Menschen 'vernünftig' (wobei Vernunft hier natürlich heute eher zum Kriegsruf der BWL/ VWL verkommen zu sein scheint) organisieren, der wird schnell merken, daß ohne den Rückgriff auf innerpsychische Momente, die jede 'vernünftige' Regelung oder Anle$itung transzendieren, solche gesellschaftlich-allgemein und nicht auf direkte, persönliche Zuneigung basierende Pflege in einer seelenlosen satt-und-sauber Verwahranstalt terminierte.
Zum Glück scheinen die dort Arbeitenden jedoch jede(r) für sich über ein ganz anderes Inventar an ethischen Handlungsanleitungen zu verfügen, welches all das herstellt, was sonst fehlen würde.
Wem diese schlichte Überlegung nun etwas zu hemdsärmelig erscheint und lieber die Namen gestandener (Ur-)Männer und Autoritäten hat, dem seien Schriften der Herren Roethlisberger und Dickson anempfohlen, obwohl natürlich ein Pflegeheim nicht so ohne weiteres mit einem mica-splitting-room zu vergleichen wäre.
Doch das soziale Geschehen, so denke ich, ist in beiden Laboratorien durchaus das gleiche!
"Ich glaube nämlich nicht, daß von oder über Moral und Ethik sinnvoll gesprochen werden kann, ohne Gesellschaft bereits vorauszusetzen" - das stimmt - und es ist wirklich ein Dilemma. Weil es umgekehrt natürlich auch gilt.
AntwortenLöschenEs ist nämlich wirklich so, dass weder Vernunft noch Gefühl allein für einen menschenwürdigen Umgang miteinander sorgen können. Darin sind wir uns einig.
Vielleicht ist es daher vor allem ein Streit um den Begriff. Der des "Mitleids" ist mir suspekt, während ich Barmherzigkeit und Liebe für unverzichtbar halte. Im Mit-Leid steckt mir eben dies Zutrauen in Identität und Identifikation, das ich nicht habe. (Und sicher auch der häufig beleidigende und herabwürdigende Gebrauch: "Du tust mir leid.")
Ich könnte, gegen einen Kantianer opponierend jetzt auch Ihre Rolle einnehmen, wenn jemand anders die Vernunft gegen das Gefühl ausspielen wollte. Ich traue meinen Gefühlen sehr, aber ich weiß auch, dass sie ungerecht sind: Was ich für den einen fraglos tue, wäre mir bei einem anderen völlig unmöglich. Was Familien liebend leisten, achte ich sehr und auch für das, was manche über den engen Kreis ihrer Nächsten hinaus in ihren Berufen an Liebe und Zuwendung geben können, bin ich sehr dankbar. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich auch, dass ein professioneller "Helfer" mit seinen Gefühlen sehr vorsichtig sein muss.
(Mir geht´s nicht um Autoritäten, aber ich kann von einigen was lernen, die schärfer denken können als ich.)
Und wenn's denn nur ein Streit um einen Begriff wäre, gefällt es mir dennoch so. Weil es immer gut tut, sich seine Gedanken von anderen Menschen umdrehen zu lassen, und weil ich es schade finde, daß die Netzwelt (so mein sicherlich sehr kursorischer Eindruck) zur Ver-Laut-Barer-Welt zu verkommen droht, in der die hübschen, erbsenzählerischen Polemiken von launisch-lauten Sprüchen oder I-like-it-like-that-Buttons verdrängt werden.
AntwortenLöschenDaher mein herzlicher Dank für diesen Dialog (und mein Seitenhieb wg. Autoritäten war gar nicht so gemeint, allerdings stacheln diese, purzeln sie durch die Lande oder Texte, mich immer zu einem leisen Grinsen an, was natürlich der Unschärfe meines eigenen Denkens geschuldet ist, welches wiederum sich teilweise der Nachlässigkeit verdankt, mal wieder ohne Brille zu surfen...)
Ich danke auch! Weil ich tatsächlich zum Provozieren neige. Und der Witz ist: Meist könnte ich das Gegenteil genauso vehement vertreten, beinahe!
AntwortenLöschenWeil es mich aber doch ärgert, mal wieder den Meister-Denkern (männlich) auf den Leim gegangen zu sein (einzige Ausnahme Käte Hamburger), wühle ich mir heute Nacht Martha Nussbaum aus dem Regal. Ich weiß nicht, ob sie zu Mitleid direkt etwas sagt. An das hier erinnere ich mich:
"To be a good human being is to have a kind of openness to the world, an ability to trust uncertain things beyond your own control..."
Und vielleicht baut es auch eine Brücke: Ich fürchte mich davor, dass das Fremde ausgeschlossen wird, wenn wir zu sehr auf unsere Identifikationsfähigkeit setzen. Und Sie, so verstehe ich es, fürchten, dass wir uns a l l e fremd werden, wenn wir uns nicht miteinander identifizieren. Vielleicht geht es von beiden Seiten darum, die Durchlässigkeit zu erhöhen und zu erhalten: Offenheit, Unsicherheit, Kontrollverlust.
Ich möchte einige unfertige Gedanken hinzufügen:
AntwortenLöschenMitgefühl lässt sich, denke ich, auch als etwas Grundsätzliches entwickeln aus der Erfahrung, dass es Leid verschiedenster Art gibt, selbst erlebt und/ oder bei Nahestehenden miterlebt. Es bedarf der Vernunft und der Herzensbildung, um daraus den Schluss zu ziehen, dass es auch Leid geben muss, das wir selbst nicht kennen und nachfühlen können. Und es bedarf des Respekts, um dieses Leid zu glauben, auch wenn wir es nicht verstehen und nachfühlen können.
Respekt ist auch notwendig, um das Leid beim Leidenden zu lassen, ihn gewissermaßen als den Leidtragenden zu würdigen, und nicht in Selbstmitleid ob der Schwere des auszuhaltenden Mitleidens zu versinken.
Mitleid im besten Sinne beinhaltet für mich Geduld und die Einsicht, dass Leid sich nicht per Knopfdruck abschalten lässt, dass Trost und Schmerzlinderung nicht immer möglich sind, und manchmal heißt es auch aushalten, dass jemand sich nicht helfen lassen will.
Ich musste an das Buch "Ungeduld des Herzens" von Stefan Zweig denken, in dem es eben um diese Art falsches Mitleid geht, welches das Leiden des anderen nicht aushält, es daher unbedingt ausschalten will, nicht, damit der Leidende, sondern damit der Mitleidende sich besser fühlt.
Und dann denke ich, dass es mit dem Mitleid ist wie mit der Liebe. Wenn sie jeweils nur oder vor allem als Gefühl verstanden werden, bleiben sie egozentrisch. Erst als Handlung, angefangen beim Hinschauen und Hören, fortgesetzt im Respektieren und Würdigen, vollendet im "Zupacken" oder einfach im Bleiben oder auch im Lassen, wird daraus eine Hinwendung zum anderen.
Dank an Melusine für's Aufgreifen dieses Themas, nicht zum ersten Mal, wenn ich mich recht erinnere (Stichwort: Fukushima). Ich fand hier in der Diskussion viel Anregendes.
Liebe Iris, ja, das stimmt, dass schon einmal von der "Betroffenheit" die Rede war, die mich irritiert und auch verstimmt hat, damals unmittelbar nach dem GAU von Fukushima. Auch gute Freunde waren übrigens - wie jetzt Sumuze - nicht einverstanden mit meiner Abwehr gegen die wohlmeinende Einfühlung ins fremde Leid.
AntwortenLöschenIch werde da wohl noch öfter drüber nachdenken müssen, warum mich das so arg stört. Vielleicht steckt dahinter auf ein diffuses "Schuldgefühl", weil ich selbst bisher so wenig existentielles Leid erfahren habe, so dass ich mir einfach nicht zutraue (angemessen?) "mitzuleiden". Und natürlich steckt dahinter auch eine (preußische?) Erziehung: "Beiß die Zähne zusammen." Man hilft, so gut man kann, aber man klagt nicht (mit). Ich weiß, das wird heute eher kritisch betrachtet (Stichwort: Verdrängen). Doch ich glaube, manchmal ist das auch sehr nötig. Meine Eltern (ganz anders als das Geschlechterklischee annimmt) teilen die Zuwendung seit je auf: Meine Mutter hilft pragmatisch, mein Vater spendet Trost. Beides vereinen können, ohne sich selbst in das Leid zu steigern, es zu verstärken oder den anderen damit zu identifizieren, darauf kommt es wohl an.